Das Dorf der Verbannten
Das Ritual der Verbannung wird nur äußerst selten und ausschließlich bei wirklich grausamen, unmenschlichen Verbrechen als Strafe vollzogen. Keine Verbannung ist jemals aufgehoben worden. Da die Frostmenschen die Gemeinschaft hochhalten und überzeugt davon sind, dass niemand auf Dauer allein überleben kann, geht man allgemein davon aus, dass alle Verbannten relativ schnell verstorben sind. Vielleicht haben einige nicht abgewartet, bis sie der Kälte oder der Hungertod ereilt, und sind über die Klippen ins Meer gestürzt oder haben selbst ihrem Leben ein Ende gesetzt. Nyrian ist eine raue Gegend, und Fleisch wird von vielen Kreaturen geschätzt. Kein toter Frostmensch bleibt lange liegen.
Es verwundert nicht, dass es zahlreiche Geschichten gibt, die von den Verbannten als Schreckfiguren erzählen – mahnend, warnend, stets mit dem Ziel, das Bewusstsein für die Bedeutung der Gemeinschaft und das Wohl des Volkes wachzuhalten.
Auch wenn niemand glaubhaft von einem Dorf der Verbannten berichten kann, hält sich das Gerücht hartnäckig in der Gesellschaft der Frostmenschen. Es heißt, dass jenseits der Ismurna, der großen Eiswand im Norden, ein kleines Dorf existiere, in dem alle Verbannten willkommen seien und ein normales Leben führen könnten.
Andere Varianten erzählen von kleinen, verstreuten Gruppen, die sich dort gegenseitig bekriegen. Mal ist die eine Gruppe an der Macht, mal die andere. Frieden und Gemeinschaft gibt es dort nur zeitweise, und selbst dann scheint sie brüchig.
Die Geschichten sind vielfältig, doch selten von Harmonie geprägt. In einer besonders düsteren Abwandlung heißt es, die Verbannten würden von den erzürnten Ahnen gezwungen, die Ismurna hinaufzuklettern und sich zu einem leeren Dorf zu begeben. Ganz leer sei es jedoch nicht, denn dort lägen alle Verbannten tot in ihren Häusern, die sie selbst errichtet hätten. Der Verbannte soll angeblich von den Ahnen gezwungen werden, ein Haus ohne Luftzufuhr zu bauen, damit er darin stirbt und seine Seele für immer gefangen bleibt – unfähig, sich jemals unter die Ahnen einzureihen oder erneut geboren zu werden.
Es sollte jedoch klar sein, dass ein solches Dorf in lebendiger Form kaum existieren kann. Alle paar Jahrzehnte wird ein Mensch verbannt – das würde bedeuten, dass die Verbannten Jahrhunderte überleben müssten, um Nachkommen zu zeugen und eine Gesellschaft aufzubauen.
Ein Dorf voller Leichen hingegen, ob durch das Wirken der Ahnen oder durch die düsteren Erzählungen geformt, erscheint durchaus denkbar.
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