Thule
Kindheit im Zirkus
Thule wuchs zwischen Wagen und Zelten auf, in einer Welt aus Trommelklang, Pferdegeruch und Lampenlicht. Wenn die Sonne sank und die Musik anschwoll, begann sein Zuhause zu leben – Seile knarrten, Jongleure lachten, und irgendwo zischte Lampenöl in den Flammen.
Sein Vater war Trapezkünstler – kräftig wie ein Schmied, doch leicht wie ein Tänzer, der über die Welt hinwegglitt. Seine Mutter zähmte Tiere mit einer Ruhe, die selbst Raubkatzen gehorchen ließ. Beide liebten die Manege, das Publikum, den Moment, in dem Stille und Jubel ineinanderflossen.
Thule spielte zwischen ihnen, kletterte über Taue, balancierte auf Wagenrädern und lernte früh, was Gleichgewicht bedeutet. Er war ein Kind wie jedes andere – neugierig, laut, staunend –, doch er hatte ein eigenartiges Geschick für Messer. Während andere Stöcke warfen oder Reifen drehten, ließ er Klingen durch die Luft tanzen, als folgten sie einer unsichtbaren Melodie. Er konnte stundenlang üben, ohne zu ermüden, nur begleitet vom dumpfen Schlag, wenn Metall auf Holz traf.
Das Zelt war seine Welt – der Sand unter den Füßen, der Geruch von Sägemehl und der Nachklang der Musik in den Seilen. Alles schien in Bewegung, doch inmitten dieses Wirbels fand Thule seine Ruhe.
Der Wahrsager und das Kind
Hilmar, der alte Wahrsager des Zirkus, bemerkte dieses stille Talent zuerst. Tagsüber las er Karten, sprach in Rätseln und ließ Kerzen flackern, wenn Gäste in sein Zelt kamen. Doch hinter den Kulissen war er der, der alles zusammenhielt: Er kannte das Gewicht der Wagen, die Spannungen der Seile, den Gemütszustand der Tiere und die Sorgen der Menschen.
Eines Nachts sah Hilmar den Jungen üben. Im Schatten der Wagen stand Thule da, als vier Messer in schneller Folge dieselbe Linie im Holz trafen. Der Alte trat näher, betrachtete das Muster – keine Zufälligkeit, sondern eine Rune.
„Du wirfst nicht, um zu treffen“, sagte er leise. „Du wirfst, um zu verstehen, warum es trifft.“
Von diesem Abend an verband die beiden ein stilles Vertrauen. Hilmar war der erste Erwachsene, der in Thule nicht nur Talent sah, sondern Verständnis. Er sprach mit ihm anders als mit den anderen – behandelte ihn nicht wie ein Kind, sondern wie jemanden, der Fragen stellen durfte.
Lehrjahre unter der Stillen Linie
Als Thule eines Winters krank war, brachte Hilmar ihm Tee und erzählte Geschichten über ferne Länder, über Zeichen im Wind und Muster in den Sternen. Zum ersten Mal spürte Thule, dass seine unruhige Art kein Fehler war, sondern Tiefe.
Hilmar wurde sein Lehrer. Er brachte ihm Lesen und Schreiben bei, alte Sprachen, Symbolkunde und die Grundlagen der Magie. Er lehrte, dass jede Linie, jede Bewegung, jede Rune Teil eines größeren Musters war – und dass Magie keine rohe Kraft, sondern eine Ordnung sei, die durch Bewegung sichtbar wird.
Später kamen Reisen hinzu, geheime Treffen, verschlüsselte Botschaften. Hilmar war Mitglied eines Bundes namens Die Stille Linie – Wissende, die im Verborgenen gegen jene wirkten, die ihre Macht missbrauchten. Sie sahen die Korruption der Städte, die Grausamkeit mancher Adliger, die Gier nach magischen Relikten – und wussten: Das Licht, das alle sahen, war längst vergiftet.
Sie glaubten daran, dass die Welt eines Tages gerechter werden könnte, wenn der Wandel mit Bedacht vorbereitet wird. Im Verborgenen arbeiteten sie daran, Wissen zu bewahren, Unrecht zu dokumentieren und den Einfluss der Mächtigen zu unterwandern, um den Boden für eine bessere Zukunft zu schaffen.
Thule wurde Hilmars Schüler, Bote und Vertrauter. Er lernte, Magie zu sehen wie Tanz – jede Rune ein Schritt, jede Geste eine Melodie. Es passte zu ihm: Präzision, Körperbeherrschung, Rhythmus. Tagsüber war er Artist, nachts Beobachter.
Seine Eltern wussten nichts davon, sahen aber seine Wandlung: mehr Disziplin, ein ruhiger Blick, Pausen zwischen den Bewegungen. Sie hielten es für Ehrgeiz – und waren stolz.
Die Versuchung der Schatten
Die Jahre mit der Stillen Linie prägten ihn. Thule lernte, Spuren zu lesen, die andere übersahen – Linien im Staub, Muster in Worten, Störungen im Atem einer Menge. Er wurde ein Tänzer der Zwischenräume.
Doch je tiefer er in Hilmars Welt eintauchte, desto stärker spürte er auch die Versuchung. Er wusste, dass die Stille Linie Gutes tat, doch der Nervenkitzel der heimlichen Wege, das Adrenalin eines geglückten Einbruchs, das Spiel zwischen Gefahr und Kontrolle reizten ihn mehr, als er sich eingestand.
Manchmal suchte er die Herausforderung nicht wegen des Auftrags, sondern wegen des Rauschs. Dieses Wissen nagte an ihm – eine Mischung aus Scham, Sehnsucht und süßer Versuchung. Der Rausch war wie ein eigener Herzschlag in ihm: das Brennen der Muskeln, das leise Zittern vor dem Sprung, der Moment, in dem alles still wurde, bevor die Bewegung begann.
Es war ein Gefühl, das er suchte, ohne es zuzugeben. Wenn er sich in Schatten bewegte, spürte er Lebendigkeit wie sonst nie. Er wusste, dass die Grenze zwischen Pflicht und Verlangen dünn war. Doch je mehr er versuchte, das Gefühl zu kontrollieren, desto mehr zog es ihn an. Es war, als tanze er mit seiner eigenen Dunkelheit.
Thule stand auf einer schmalen Grenze zwischen Pflicht und Verlangen, und er wusste, dass er eines Tages vielleicht die falsche Seite betreten würde.
„Ein wahrer Magier sieht nicht, was ist“, sagte Hilmar, „sondern was werden kann, wenn man es in Bewegung bringt.“
Ein Auftrag, ein Lächeln, ein Verlust
Dann kam der Auftrag, der alles veränderte. Er sollte in das Haus eines adligen Sammlers einbrechen, um Aufzeichnungen über ein Artefakt zu finden. Leise, schnell, ohne Blut.
Doch als er durch den Salon schlich, öffnete sich eine Tür. Eine junge Frau stand im Rahmen, kaum älter als er, mit wachen Augen, die ihn eher studierten als fürchteten. Einen Herzschlag lang stand die Zeit still.
Thule reagierte instinktiv. Er verbeugte sich tief, griff nach einer Blume aus einer Vase, reichte sie ihr mit einem verschmitzten Lächeln – halb Spott, halb Entschuldigung – und sprang aus dem Fenster in die Nacht. Sie hatte gelächelt. Nur das blieb. Kein Schrei, kein Zorn – nur dieses Lächeln.
Als er Wochen später zurückkehrte, war der Zirkus still. Hilmars Wagen stand offen, das Zelt halb niedergebrannt. Rauch, Wachs, Metallgeruch. Hilmar war tot.
Auf dem Boden lag eine zerschlagene Rune, in seiner Hand eine Glaslinse, in der Licht wie Wasser schimmerte. Die Angreifer waren fort, aber Spuren ihrer Runenarbeit blieben – grob, zerstörerisch, überhastet. Niemand verdächtigte Thule. Niemand wusste, wer Hilmar wirklich gewesen war. Niemand verstand, warum Thule fortan nicht mehr schlief.
Der Schatten bleibt
Es folgten Jahre im Schatten. Thule blieb beim Zirkus, reiste von Stadt zu Stadt, trat auf, warf Messer, lachte mit den anderen Artisten. Doch nach dem Applaus zog er sich zurück. Er studierte Hilmars Linse, skizzierte Runenmuster, experimentierte mit schwachen Zaubern.
Er suchte nach Wiederholungen, nach den Mustern jener, die Hilmar getötet hatten. Manchmal glaubte er, dieselbe Handschrift in Sternbildern zu erkennen. Die Stille Linie blieb verschwunden. Keine Botschaften, keine Aufträge. Vielleicht war der Bund zerstört. Vielleicht testeten sie ihn. Vielleicht wachten sie noch über ihn.
Trotz seiner Suche blieb Thule unruhig. Er konnte kaum stillsitzen, redete oft schnell, als müsse er die Stille übertönen. Im Alltag des Zirkus war er freundlich, doch selten ganz anwesend – seine Gedanken wanderten zu Mustern, Zeichen und ungelösten Rätseln.
Er sammelte Bücher, alte Schriftrollen und Bruchstücke fremder Alphabete, studierte sie bei Nacht, wenn die anderen schliefen. Er war kein einfacher Mensch. Manche hielten ihn für charmant, andere für unnahbar. Er konnte lachen, flirten und Geschichten erzählen, aber selten ließ er jemanden wirklich nah heran.
Tief in sich glaubte er, dass keine Freundschaft echt sein konnte, wenn niemand wusste, wer er wirklich war. Und so hielt er Distanz – höflich, aber beständig. Dieses Schweigen zwischen ihm und den anderen war seine eigene Form von Schutz.
Der Tänzer der Zwischenräume
Mit den Jahren veränderte sich vieles. Der Zirkus, einst sein Zuhause, wurde für Thule immer leerer. Nach dem Tod seiner Eltern, die bei einem Unfall in der Manege ums Leben kamen, blieb nichts, was ihn wirklich hielt. Die vertrauten Wagen wirkten wie Schatten ihrer selbst, die Lichter wie Masken.
Eines Nachts packte er seine wenigen Habseligkeiten, ließ die Manege hinter sich und verschwand. Seitdem lebt Thule von Auftritten, Gelegenheitsarbeiten und kleinen Aufträgen, die keine Fragen stellen. Er zieht von Stadt zu Stadt, bleibt selten lange.
Immer wieder findet er sich in Situationen, in denen er seine Finger nicht stillhalten kann. Manchmal bricht er in Häuser ein – nicht aus Not, sondern aus diesem unstillbaren Drang, die Spannung zu fühlen, das Herzrasen, den Moment kurz vor der Entdeckung. Danach schämt er sich, doch der Reiz bleibt.
Für Außenstehende ist er ein talentierter Artist und gelegentlicher Zauberer, doch wer genauer hinsieht, erkennt den Unfrieden in seinen Bewegungen. Nachts, wenn alles ruht, zeichnet er Linien in den Staub, lauscht seinem Atem und hört das Echo seiner Schritte.
Er übt weiter. Er kämpft weiter. Er vergisst nicht.
Epilog: Das flackernde Licht
Er weiß nicht, wer Hilmar getötet hat. Er weiß nicht, ob die junge Frau ihn verraten hat. Er weiß nur, dass er nicht aufhören kann zu suchen.
In der Bewegung der Klinge, im Muster des Feuers, in den Schatten der Manege sucht er nach einer Wahrheit, die sich entzieht. Und wenn er tanzt – Klinge in der Hand, Körper im Gleichgewicht – hört er manchmal Hilmars Stimme:
„Ordnung ist Bewegung, Thule. Lass sie nicht erstarren.“
So steht Thule am Anfang seiner Geschichte – ein Mensch zwischen Bühne und Schatten, Künstler, Spion und Schüler zugleich, getrieben von Loyalität, Schuld und dem Wunsch, endlich zu verstehen, was wirklich geschehen ist. Und irgendwo in seinem Herzen flackert ein Rest des Lichts, das Hilmar einst in ihm entzündet hat – leise, unermüdlich und klar.


