Tue, Feb 27th 2024 02:11
Edited on Tue, Feb 27th 2024 02:14
Die Wache mustert Ailis sichtlich amüsiert. "Die Gräfin? Ja klar, kein Problem. Vielleicht auch Kaiser Avenna, wenn wir schonmal dabei sind? Oder Anesh?" Er lacht lauthals auf, was die Aufmerksamkeit der anderen Wachen auf Ailis lenkt, denen er ihr Anliegen erläutert und die in sein Lachen einstimmen.
Ailis sieht schon alle ihre Felle davonschwimmen und die Demütigung versetzt ihr einen schmerzhaften Stich, da bahnt sich jemand seinen Weg durch die versammelten Wachen am Fuße des Frateto. Der Mann ist groß und überragt die Wachen um Haupteslänge, dabei ist er dürr wie ein Stecken, hat einen kleinen Buckel und trägt einen langen braunen Kittel über einer Tunika. Seine Finger sind tintenfleckig und knotig. Das muss einer der Schreiber sein, die ihre Stuben in dem zweiten Turm haben, dem Maljufrato. Er geht zu der Wache, die Ailis als erstes angesprochen hat und redet leise und eindringlich auf den Mann ein. Dessen Gesichtsausdruck wechselt von amüsiert zu ärgerlich, bis er endlich einen tiefen Seufzer ausstößt. "Bei Borsennas Eiern, ist ja gut. Ich habs kapiert!" Er sieht Ailis ungläubig an und schüttelt verständnislos den Kopf. "Ich verstehs zwar nicht, aber die Gräfin will euch tatsächlich sehen." Er zuckt die Schultern und seine Verwirrung spiegelt sich auch in den Gesichtern der anderen Wachen wider.
Ailis wird jetzt offenbar der Obhut des Schreibers übergeben, denn die Wächter zerstreuen sich wieder und kehren auf ihre Posten zurück. "Ich bin der Erste Schreiber Verla, Majstro Casteres", stellt er sich vor. "Ihr müsst den Wachen vergeben, sie taten nur ihre Pflicht. Folgt mir bitte."
Ailis hat schon von Maurizio Verla gehört. Er überwacht die Schreibstuben und das Archiv des Hauses Coveani und gehört zum engsten Beraterkreis der Gräfin. Die Wichtigkeit und der Einfluss dieses Mannes passen so gar nicht zu seiner wenig repräsentativen Aufmachung. Sie folgt ihm die kurze Strecke bis zum Maljufrato und durchschreitet das Tor ins Innere des Turms. Sie durchqueren einen Raum, in dem acht Schreiber über ihren Pulten brüten, einem davon flüstert der Erste Schreiber etwas ins Ohr, woraufhin dieser davoneilt. Ailis folgt ihrem Führer in einen kleinen Raum, der von einem Schreibtisch und einem Pult dominiert werden, die über und über mit Papier, Kreidetafeln, Wachstafeln, Griffeln und Federkielen bedeckt sind. Durch ein hohes schmales Fenster fällt Licht in den Raum und um ihn vollends zu erhellen, bedarf es einiger Kerzen, die bedenklich nah an den Papierstößen stehen.
"Wir haben gerade bei der Ratsbesprechung über euch geredet", erklärt Maurizio Verla. "Ihr hattet Glück, dass ich gerade in der Nähe war, sonst hätte die Wache euch weggeschickt. Er war etwas grob, das gebe ich zu, aber andererseits kann man auch nicht jeden einfach zur Gräfin vorlassen."
Ein Mann betritt den kleinen Raum, der dadurch noch erheblich kleiner wird. Ailis kennt ihn vom Sehen, denn er ist riesig, fett und kleidet sich noch dazu in schreiend bunte Farben. "Ich bin Enno", erklärt der Riese und verneigt sich kurz. "Folgt mir bitte, Majstro Casteres." Und wieder wird Ailis weitergereicht und folgt nun dem Riesen Enno eine Wendeltreppe nach oben. Unterwegs lassen immer wieder schmale Fenster, fast Schießscharten, Licht in das diesige Treppenhaus. In regelmäßigen Abständen passieren sie Absätze, von denen Türen in die Räume des jeweiligen Stockwerks führen. Aber ihr Weg führt immer weiter nach oben, bis sie endlich eine Holztreppe erklimmt, die aufs Dach führt.
Sie steht jetzt auf dem höchsten Gebäude Pelorns. Die Stadt und das Meer scheinen sich vor ihr gleichermaßen unendlich auszubreiten. Sie befindet sich im Dachgarten der Gräfin, den man vom Boden aus nur erahnen kann. Schmale Kieswege führen durch eine auf dem Boden angelegte Rasenfläche. Es muss Tage gedauert haben, die benötigte Erde diese schmale Treppe hinaufzubringen. In runden Hochbeeten wiegen sich Rosenbüsche im Meereswind, in großen Tonvasen stehen Sanddorn und Schlehdorn, Seelavendel und Strandflieder säumen den Weg in geschwungenen Beeten. Ihr Duft mischt sich mit dem kräftigen Geruch von frischem Mulch und Meeresluft. In der Mitte des Gartens und im Zentrum der ganzen Anlage reckt ein Feuerahorn seine Äste in die Höhe.
Die Treppe, über die Ailis den Garten betreten hat, wird von einem steineren Dachhäuschen vor Wind und Wetter abgeschirmt. Der Balken des hölzernen Türsturzes bildet in seiner Verlängerung den Teil einer Pergola, dessen hölzerne Konstruktion es erlaubt, über eine Reihe von Seilen schwere Vorhänge aus Segeltuch zum Schutz vor den Elementen hierhin und dorthin zu bewegen. Das ganze erinnert Ailis an ein Schiff, denn die Seile knattern leise im Wind und das Tuch bauscht sich in einer Brise vom Meer. Unter der Pergola - dessen Vorderseite gerade gänzlich offen ist - steht ein Schreibtisch aus Metall mit einer schweren Glasplatte darauf. Mehrere Diener mussten Blut und Wasser geschwitzt haben, das wertvolle Stück ohne Unfall die enge Treppe hinauf zu schaffen. Hinter dem Schreibtisch steht ein spartanisch aussehender Stuhl mit einer Sitzfläche aus Mosaiksteinchen, deren Motiv Ailis aber nicht erkennen kann. Zwei gleiche Stühle stehen vor dem Schreibtisch. Das alles ist offenbar dazu gedacht, hier draußen den Elementen zu trotzen.
Enno verteilt nun kleine Kissen auf den harten Stühlen und richtet einige Schreibutensilien auf der Glasplatte her. Dann stellt er ein Tablett mit einem einfachen Tonkrug und zwei Bechern sowie einer Schale mit Obst auf den Schreibtisch und verneigt sich wieder in Ailis Richtung. "Gräfin Coveani wird in Kürze hier sein." Und damit geht er wieder nach unten und verschwindet im Bauch des Turmes.
Ailis bleibt etwas verwirrt zurück.
Tatsächlich vergeht kaum Zeit, ehe sie jemanden mehrere Stufen auf einmal nehmend die Treppe hinaufkommen hört. Gräfin Alessandrina trägt eine beige Uniformhose und ein langärmliges schwarzes Wams mit goldenen Stickereien an Ärmelaufschlägen und Kragen. Am Ringfinger ihrer rechten Hand blitzt der Siegelring des Hauses Coveani. Offenbar kommt sie gerade von einem Termin oder einer Besprechung und hat tausend Dinge im Kopf. Als sie Ailis sieht, schiebt sie diese Dinge mit einem Lächeln beiseite. "Majstro Casteres!", begrüßt sie sie ganz unprätentiös. Sie zieht das Wams aus und hängt es über ihre Stuhllene, dann öffnet sie die obersten zwei Knöpfe des Hemdes, dass sie darunter trägt und zieht das Band aus ihren Haaren, das ihren Pferdeschwanz zusammenhält. Sie schüttelt ihre Haare aus und schenkt dann sich und Ailis einen Becher Wasser ein.
Dann lehnt sie sich gegen die Schreibtischkante, nippt an dem Becher und mustert Ailis mit einem durchdringenden Blick. Trotz aller Lockerheit fühlt die Töpferin sich plötzlich wie das sprichwörtliche Kaninchen vor der Schlange.
"Also, was führt euch zu mir?"