Religious event
Niemand weiß, wer sie ist oder woher sie gekommen ist, als sie auf einem Platz in einem der Außenbezirke erscheint, auf dem ein paar Hausierer unter der Aufsicht eines Bandenschlägers halb verrottete Lebensmittel anbieten. Barfuß, mit wehendem Haar, in nicht viel mehr als Lumpen gekleidet, stößt sie dem Schläger ein rostiges Messer in den Hals und enthauptet ihn. Mit dem blutigen Kopf in der Linken beginnt sie mit einer Stimme, die die Menschen sofort in ihren Bann schlägt, zu predigen. Im Namen Afyras, der Herrin der Schatten, spricht sie von Erlösung, vom Ende der Not und der Unterdrückung für jeden, der Afyra annähme und kurz darauf liegen viele auf den Knien und flehen um den Segen der Herrin der Schatten. Die Prophetin zeichnet sie mit dem Mal Afyras, einem durchbrochenen Kreis, das sie mit dem Blut des Schlägers auf ihre Stirnen malt. Sie nennt sie Afyras Erwählte und schon bald hallt der Name, der nicht genannt werden darf, laut in den Straßen der Armenviertel.
Wie ein Sturm fegt Namen der Schattenherrin durch die Außenbezirke. Wer nicht das dunkle Band nimmt und sich Afyra unterwirft, stirbt augenblicklich. Schon nach ein paar Wochen beherrscht die Prophetin und Afyras Kinder, wie sich ihrer Anhänger nennen, die Außenbezirke. Sie predigt, daß kein Ungläubiger am Leben bleiben darf und wer von den Kindern Afyras hat und nicht denen gibt, die weniger haben, schlimmer ist als ein Ungläubiger. Afyras Kinder hätten untereinander wie Brüder und Schwester zu sein. Sex, Ausschweifung und das Töten Ungläubiger im Namen Afyras seien Gebete und heilige Handlungen. Nichts kann die fanatisierte Menge aufhalten und bald ist die Stadt bis auf ein paar befestigte und zur Verteidigung eingerichteten Gebäudekomplexe der wohlhabendsten Häuser in der Hand der Prophetin.
Der Sommer des Jahres 51 ist ein blutiger Rausch, in dem sich Hinrichtungen auf öffentlichen Plätzen, Massenorgien und ekstatische Predigten der Prophetin oft genug vermischen. Im Herbst steht die Prophetin auf dem Höhepunkt ihrer Macht. Sie residiert in einem Palais an der Mezena und wird in seidenen Roben wie eine Königin durch die Straßen getragen, doch die Ernte verrottet auf den Feldern, da sich niemand mehr findet, der sie einbringt. Im Winter beginnt der Hunger, denn die Lager in der Reichweite der Kinder Afyras sind bis aufs letzte Getreidekorn geplündert, die letzten Weinkrüge geleert. Ein Angriff auf die gut verteidigte Residenz des Hause Coveani, in der reiche Vorräte vermutet werden, endet in einer katastrophalen Niederlage der Kinder Afyras. Viele Mitläufer beginnen sich nun abzusetzen und sich in den weitläufigen Außenbezirken und im Umland zu verbergen.
Der Terror richtet sich zunehmend auch gegen die im Glauben Schwankenden. Für einige Wochen vermag die Prophetin mit Angst und Schrecken ihre Herde noch zusammen halten, doch dann bricht die Bewegung vor Hunger und Enttäuschung auseinander. In den letzten Winterwochen brechen Kämpfe aus, als sich Reste der Kinder Afyras gegen die fanatischen Erwählten der Prophetin zur Wehr setzen. Als die aufgebrachte Kinder Afyras das Palais stürmen, in dem die Prophetin Hof hält, ist sie nicht zu finden.
Ein paar Tage durchkämmen Trupps der sich verraten fühlenden Kinder Afyras die Stadt, doch von der Prophetin fehlt jede Spur. Jeder ihrer Erwählten aber, der dem Mob oder den bewaffneten Angehörigen der Häuser in die Hände fällt, stirbt einen hässlichen Tod. Doch der Hunger ist bald stärker als die Wut und Afyras Kinder lösen sich auf wie Salz im Wasser. Schon zu Frühlingsbeginn 52 herrschen wieder nahezu normale Verhältnisse in der Stadt. Doch es kommen Gerüchte auf, daß Haus Thornhoff im Geheimen die Kinder Afyras zu horrenden Preisen mit Lebensmittel beliefert haben soll und daß eine Gruppe der Erwählten im Untergrund weiter besteht. Die Gerüchte um das Haus Tornhoff verstummen bald, nachdem einige der eifrigsten Verbreiter mit durchgeschnittenen Kehlen gefunden werden. Die Gerüchte um die Erwählten der Herrin der Schatten jedoch sind bis heute nicht verstummt.