Die Seele und ihr Weg
Im Augenblick des Todes löst sich die Seele vom Körper des Verstorbenen. Je nach den Umständen des Sterbens kann dies ein friedlicher Übergang oder ein gewaltsamer Akt sein, aber immer ist es ein Schock für die Seele. Getrennt vom Leib, orientierungslos und verängstigt wie ein Neugeborenes hat die Seele nur den Wunsch zurück in den Körper zu gelangen. Unter normalen Umständen ist dies der Seele verwehrt. Doch unter besonderen Umständen kann eine starke Seele sich nach dem Absterben des Leibes den Weg zurück erkämpfen. Dank sei den heiligen Zwillingen, daß diese Umstände nur höchst selten eintreten, denn eine Seele in einem toten Körper ist ein grauenhafte Monstrosität, eine pervertierte, höchst gefährliche Verhöhnung alles Heiligen und des Lebens selbst. Hierin findet sich auch der wahre Grund für die uralte Sitte der Totenwacht und das Gebot der schnellen Einäscherung der sterblichen Hülle.
Mit der erfolgten Verbrennung der Leiche und den Segen der Priester ist die Gefahr der Erweckung eines Wiedergängers endgültig gebannt, doch nicht die Gefahren für die Seele, die sich immer noch an ihr altes Leben klammert und nicht aus der vertrauten Umgebung der Familie und der Wohnstatt weicht. Am Abend nach der Einäscherung sollte die Familie oder in Ermangelung einer solchen Freunde ein Abendmahl ausrichten, bei dem für den Verstorbenen gedeckt und Essen gereicht wird. Dabei sollte mit freundlichen Worten des Lebens und der Taten des Verstorbenen gedacht werden.
Der Seele wird damit die Zuneigung der Familie oder der Nahestehenden versichert, die für die nächsten gefahrvollen Tage für die Seele Halt und Sicherheit bietet, denn die körperlose Seele ist immer noch verwirrt, ängstlich und unsicher. Es sind die Stunden der Schatten, in denen sie sich auf diese Seelen stürzen, sie umgarnen, täuschen und sie hinabzuziehen versuchen in das dunkle Reich ihrer Herrin, in die ewige Verdammung!
Jeden Morgen und jeden Abend sind Gebete für die Seele des Verstorbenen zu sprechen und in der Familie Vorbereitung für den Aufbruch zu einer langen Reise der Seele zu treffen. Dazu gehört das symbolische Packen von Kleidung des Verstorbenen und das Verstauen persönlicher Gegenstände. Am Morgen des achten Tages nach der Einäscherung wird die Bettstatt des Verstorbenen fortgenommen und Abends im Familienkreis der Seele die Notwendigkeit des Aufbruchs und der guten Wünsche aller versichert.
Am Morgen des neunten Tages treffen sich Verwandte und Freunde, um die Seele zu verabschieden und sie aus der Wohnstatt des Verstorbenen zum nächstgelegenen Tempel oder Schrein geleiten. Damit beginnt der Aufstieg der Seele zum Schloß über den Wolken. Gebete und gute Wünsche begleiten den Aufstieg den ganzen Tag über. Abends werden Türen und Fenster der ehemaligen Wohnstatt des Verstorbenen verschlossen und mit Einbruch der Dunkelheit alle Lichter gelöscht. Erst am Morgen des zehnten Tages wird je nach Möglichkeit der Familie ein Abbild des Verstorbenen oder ein Gegenstand, der dem Verstorbenen gehört hat, in den Tempel gebracht und von Priestern gesegnet. Dieses Abbild oder der Gegenstand wird sodann als Repräsentation des Verstorbenen Teil des Ahnenkultes der Familie.
Auszug aus "Die Seele und ihr Weg" des Melsar Kint, Kanonikus des Tempels der Heiligen Zwillinge
Wir weinen um dich! Wir vermissen dich, der du unseren Herzen so nahe gestanden bist und wir rufen zu euch, ihr heiligen Zwillinge, die ihr über den Wolken thront. Behütet und beschützet diese Seele auf ihrem Weg!
Zu kurz brannte dieses Licht, doch der Wille der Götter geschieht. Nun brich auf, mach dich auf den Weg! Kein Schatten soll dich hinabziehen in das Reich des Schreckens und der ewigen Verdammung!
Ihr die ihr über das Leben wacht und über den Tod, wägt sein Herz und seine Taten mit Milde und öffnet ihm die Pforte, die ihn auf den Pfad führt zu den Schiffen nach Beresant, der Insel der Glückseeligen!
Wir beten für dich und wir rufen zu euch ihr Ahnen, behütet ihn auf seinem Pfad, nehmt in auf in eurer Mitte, seid ihm Schutz und Wehr, auf daß die Schatten keine Macht haben über dich!
Traditionelles Totengebet

This is such a beautiful way to say goodbye to the dead. Thank you so much for the submission!
Thank you for your kind words. I hope you enjoyed reading.