Ulnefjarr
Erben des ersten Wassers und Wächter des flüsternden Nebels.
Ursprung & Atmosphäre
Ein Schleier aus Legenden liegt über dem Nebelsteinsumpf, und die Alten sagen, dass die Ulnefjarr aus jenem ersten Atem des Wassers geboren wurden, der den Schlamm zum Leben rief.
Im grauen Atem des Nebelsteinsumpfes, wo das Wasser nie stillsteht und selbst die Luft ein Geheimnis zu wahren scheint, lebt das Volk der Ulnefjarr. Sie sind klein, schnabeltragend und amphibisch, mit den Gestalten urzeitlicher Tiere und dem Verstand listiger Händler. In ihnen vereinen sich das Gedächtnis des Wassers, die Geduld der Erde und die Wachsamkeit des Nebels. Ihre Bewegungen scheinen bedacht, doch hinter jedem Blick liegt Kalkül. Sie sind schwer zu fassen, noch schwerer zu verstehen – und wer sie unterschätzt, verliert mehr als nur seinen Weg.
Heimat & Umwelt
Die Jahreszeiten im Nebelsteinsumpf sind kaum voneinander zu trennen: Der Winter bringt dichten, weißen Nebel, der tagelang den Himmel verschluckt, während der kurze Sommer das Wasser nur um wenige Grade erwärmt und alles in dampfendes Leben taucht. In den Übergangszeiten entstehen leuchtende Pilze und schimmernde Blüten, die den Sumpf für wenige Wochen in ein fremdes Licht hüllen. Diese klimatischen Zyklen prägen die Lebensweise der Ulnefjarr, deren Feste und Wanderungen sich am Atem des Wetters orientieren.
Die Ulnefjarr bewohnen die südlichen Marschen der Insel Isfjorr, im Herzen des Nebelsteinsumpfes. Diese Landschaft aus trübem Wasser, steinernen Mangroven und schimmerndem Schlick ist ein Ort, an dem Land und Meer sich nicht entscheiden können, was sie sein wollen. Kalte Nebelbänder durchziehen die Täler, und in der Dämmerung scheint der Sumpf selbst zu atmen. Die kälteresistenten Steinwurzeln, deren Stämme aschgrau und rissig sind, bilden das Gerüst ihrer Welt. Zwischen ihren Wurzeln wächst das Mineral Ulna’sa, der „Atem der Mutter“, das in jeder Höhle glimmt und die Stille mit einem fahlen Schimmer füllt. Das Leben hier ist trügerisch – friedlich im Klang des Regens, tödlich in den Tiefen des Wassers.
Erscheinung & Merkmale
Die Ulnefjarr sind kaum größer als ein Kind, aber muskulös und gedrungen gebaut. Ihre Haut ist glatt und feucht, das Fell dünn, erdfarben, von einem leichten Schimmer überzogen. Breite Schnäbel und flache Schwänze verleihen ihnen das Aussehen urtümlicher Geschöpfe zwischen Säugetier und Vogel. Männliche Ulnefjarr tragen an den Hinterbeinen einen Gifthornsporn, der ein lähmendes Sekret absondert. Die Weibchen besitzen stattdessen eine zweite, durchsichtige Nebelhaut über den Augen, die ihnen erlaubt, im Wasser und im Nebel klar zu sehen. So sind sie die schärferen Beobachterinnen und Jägerinnen, während die Männchen als Verteidiger gelten.
Sie können bis zu zehn Minuten unter Wasser bleiben, atmen teils über die Haut und benötigen regelmäßige Feuchtigkeit, um gesund zu bleiben. Ihre Bewegungen sind bedächtig, fast träge, doch im Wasser zeigen sie eine blitzhafte Eleganz, die an fließendes Metall erinnert. Selbst ihr Geruch – ein feuchtes Gemisch aus Schlamm, Farn und Salz – ist unverkennbar.
Ihre Gesichter wirken für Außenstehende ausdruckslos, doch untereinander erkennen sie an winzigen Bewegungen des Schnabelrands und der Schwanzspitze, was ein anderer fühlt. Freude riecht bei ihnen nach Moos, Zorn nach altem Stein.
Kleidung & Ausdruck
Obwohl ihre Haut gegen Nässe und Kälte gewappnet ist, tragen die Ulnefjarr stets Kleidung – aus Stolz, Symbolik und sozialem Anstand. Ihre Gewänder bestehen aus den Fasern der Steinwurzeln, gewebten Schilfen und getrockneten Moosen, mit feinem Ulna’sa-Staub bestäubt, der im Nebel silbrig glitzert. Sie wirken schlicht, doch in Bewegung spielen sie mit Licht und Wasser wie lebendige Schatten. Ihre Rüstungen sind leicht und organisch: Schuppenpanzer aus gehärtetem Schilf, Nebelsteinharz und den Platten der Sumpfkrabben. Diese schützen, ohne den Körper zu behindern, und verschmelzen optisch mit der Umgebung. Schmuckstücke, Gurte und Verzierungen tragen persönliche Zeichen oder Sippenmuster; sie sind ebenso Rüstung wie Ausdruck.
Ein Ulnefjarr ohne Kleidung gilt als nackt, verletzlich und ehrlos. Doch ihre Mode ist wandelbar: Sie färben Stoffe mit Sumpfblüten und Trübstoffen, deren Farbton sich mit der Feuchtigkeit verändert. So spiegeln ihre Gewänder das Wetter, den Nebel und ihre Stimmung wider – eine lebendige Sprache aus Glanz und Grau.
Gesellschaft & Lebensweise
Die Gesellschaft der Ulnefjarr ist sippenbasiert, doch nie starr. Jede Sippe bewohnt ein System aus Höhlen innerhalb einer Steinwurzel und der sie umgebenden Kanäle. Zugehörigkeit entsteht durch Schwur, Schuld und geteilte Geheimnisse – wer die Sprache einer Sippe spricht, gehört zu ihr. Innerhalb der Gemeinschaft unterscheiden sich Rollen nach Geschick und Erfahrung. Spornträger gelten als Wächter und Jäger, während die Nebelaugen, erfahrene Weibchen mit klarer Sicht, Entscheidungen treffen und Zeichen deuten. Zwischen ihnen wirken die Graustimmen – jene, deren Worte Gewicht haben und deren Schweigen bindet. Sie verhandeln zwischen den Sippen, tragen Botschaften und sprechen für die Ahnen. Wenn eine Graustimme redet, schweigt selbst der Nebel.
Trotz ihrer Ordnung sind die Ulnefjarr eigenwillige Denker. Jeder sucht seinen Vorteil, seinen Glanz, seine Sicherheit. List gilt als Tugend, Täuschung als Kunstform. Doch wenn Gefahr den Sumpf selbst bedroht – Feuer, Krankheit oder fremde Schritte – handeln sie wie ein einziger Leib, lautlos und präzise, als folge jede Bewegung einem uralten Takt. Fremde vergleichen sie mit einer Strömung: unsichtbar, bis sie dich trägt – oder verschlingt.
Heimstätten & Architektur
Die Höhlen der Ulnefjarr liegen tief in den Steinwurzeln, feucht und atmend, durchzogen von Moosen, Wasseradern und Lichtspalten. Das Innere ist kühl und gedämpft; Wände aus Schlamm und Holz werden mit Nebelstein ausgekleidet, der in flachen Schalen glimmt. Das Wasser darin flüstert leise, wenn der Wind durch die Öffnungen zieht – ein Geräusch, das sie als Stimme des Sumpfes deuten.
Außerhalb ihrer Höhlen entfalten sie ihren verdeckten Prunk. Zwischen den Mangroven glitzern eingelassene Splitter aus Ulna’sa, Gravuren tanzen auf nassen Stegen, und im Mondlicht zeichnen Lichtreflexe Muster auf die Wasseroberfläche, die nur den Eingeweihten verständlich sind. Sie schmücken ihr Revier reich und kunstvoll, doch so, dass kein Fremder die Quelle des Glanzes findet. Ihre Kunst tarnt sich – Schönheit als Täuschung, Stolz als Geheimnis.
Zwischen den Wohnkammern schweben die Glimmgasblasen, die die Ulnefjarr Fjorr’tha nennen. Es sind kugelförmige Gefäße aus durchsichtigem Harz, in denen eingefangenes Sumpfgas mit feinem Sporenstaub vermengt wird. Sobald die Feuchtigkeit des Nebels sie berührt, beginnen sie zu leuchten – erst schwach, dann fließend wie Atem. Ihr Licht tanzt in Schattierungen von Grün, Blau und fahlem Gold, als trüge jede Blase ein Stück Himmel im Bauch. Manche Sippen lassen sie frei durch ihre Höhlen treiben, andere binden sie an dünne Schilfschnüre, damit sie über den Nestkammern schweben und das Wasser darunter in sanften Wellen erhellen.
Das Summen, das sie erzeugen, wenn sie sich berühren, gilt als Stimme des Sumpfes selbst. Eine erlöschende Blase bedeutet Unglück, eine neu entzündete gilt als gutes Zeichen – als hätte Ulna selbst einen Funken ihres Atems zurückgegeben.
Lebenszyklus & Nachkommen
Die Ulnefjarr erreichen ihre Reife erst nach etwa zehn Wintern, und wer das fünfte Jahrzehnt überlebt, gilt als alt und weise. Ihre Lebensspanne kann bis zu achtzig Jahre betragen, wenngleich nur wenige so lange durch die Gefahren des Sumpfes kommen.
Sie legen Eier – weiche, silbrig schimmernde Kugeln, die sie in mit Moos ausgepolsterte Nester legen, verborgen in den tiefsten Kammern ihrer Höhlen. Beide Geschlechter wachen über die Brut, doch die Weibchen gelten als die eigentlichen Hüterinnen des Lebens. Während der Nestzeit herrscht Stille in den Sippen; selbst Graustimmen senken ihre Stimmen. Die Jungtiere schlüpfen nach etwa vierzig Tagen, können sofort schwimmen und werden von der ganzen Sippe behütet. Der Ort ihrer Geburt bleibt ihnen heilig. Kein Ulnefjarr vergisst sein Nest, und wer fern der Heimat lebt, trägt einen Splitter davon bei sich – meist ein Stück Ulna’sa aus der Geburtskammer.
Ihre Nester sind Meisterwerke: rund gewölbte Kammern aus Ton und Wurzelfasern, in denen sich Wärme sammelt. Der Geruch der Brut ist unverkennbar und wird von den Eltern instinktiv erkannt. Fremde Eier werden sofort vernichtet, selbst wenn sie von verwandten Sippen stammen – ein harter, aber heiliger Instinkt.
Bedrohungen & Anpassung
Der Nebelsteinsumpf ist voller Räuber: Schlammschlangen, Nebelraupen und die gefürchteten Schattenfänger, die durch Wasser und Dunst gleichermaßen jagen. Die Ulnefjarr begegnen ihnen nicht mit Stärke, sondern mit List. Ihre Höhlen sind durch schmale Wasserkanäle verbunden, die sich bei Gefahr mit Schlamm füllen. Manche Sippen errichten falsche Eingänge, versehen mit stinkenden Harzen oder Gashöhlen, die Eindringlinge blenden.
Die Gifthornsporne der Männchen sind letzte Verteidigungsmittel; ihre Wirkung ist lähmend, nicht tödlich. Weibchen setzen ihre Stimmen ein – hohe, vibrierende Töne, die Wasser und Nebel in Schwingung versetzen und Gegner verwirren. Dieses „Nebelrufen“ gilt als Gabe der Ahnen und wird in feierlichen Gesängen geübt. In der Dunkelheit hört man manchmal fernes Sirren – das Warnlied einer Mutter über ihrem Nest.
Wahrnehmung & Verhalten
Die Ulnefjarr nehmen ihre Welt nicht durch klare Formen wahr, sondern durch Schwingung, Geruch und Klang. Nebel, Wasser, Bewegung – all das ist für sie ein einziger Sinn. Sie erkennen Stimmungen am Klang eines Tropfens oder am Zittern des Bodens. Worte sind für sie weniger Träger von Bedeutung als Werkzeuge des Gleichgewichts.
In Gesprächen sprechen sie selten direkt; sie bevorzugen Andeutungen, Gleichnisse, Spiegelungen. Ein Ulnefjarr, der zu klar redet, gilt als unvorsichtig. Ihre Gesten – Schnabelhaltung, Schwanzstellung, Körperneigung – sind komplex und für Außenstehende schwer zu lesen. In ihren Augen ist der, der nichts sagt, oft der Klügste.
Sie sind nachtaktiv und meiden helles Sonnenlicht, das sie als „brennenden Blick“ bezeichnen. Ihre Pupillen weiten sich weit im Dunkeln, und ihre Augen glühen schwach, wenn Nebelstein in der Nähe ist. Dieses matte Leuchten gilt als Zeichen der Wachsamkeit und wird in Liedern besungen: „Wenn die Augen singen, schläft der Feind.“
Kultur & Philosophie
Die Ulnefjarr sind ein Volk der Zwischentöne. Wahrheit ist wandelbar, Besitz fließt, Loyalität gilt nur solange, bis sie gebrochen wird – doch hinter allem steht ein Prinzip: das Gleichgewicht des Sumpfes. Sie handeln nach Nutzen, aber nie gegen das, was sie „den stillen Lauf der Dinge“ nennen.
Arglist, Täuschung, taktische Höflichkeit – all das sind für sie Zeichen von Intelligenz. Ein ehrlicher Ulnefjarr ist entweder jung oder töricht. Doch sie sind keine Ungeheuer: Wer ihnen Vertrauen schenkt und Geduld hat, findet verlässliche, eigenwillige Gefährten, die Loyalität nicht in Worten, sondern in Taten zeigen.
Sie meiden die Außenwelt, handeln selten und stets verschleiert. Wer mit ihnen spricht, redet meist durch Mittelsleute. Und doch – wenn das Gleichgewicht bedroht ist, wenn Feuer den Nebel verbrennt oder Unheil in die Sümpfe dringt – verlassen sie ihre Höhlen und kämpfen mit einer Entschlossenheit, die alles Vorurteil verstummen lässt. Ihre Feinde sagen, sie seien wie Schatten im Wasser: Man sieht sie erst, wenn sie bereits zugeschlagen haben.
Kunst & Mythos
Ihre Kunst entspringt demselben mythischen Empfinden, das auch ihre Religion prägt: Jede Linie, jedes Relief gilt als Opfergabe an Ulna, die Mutter des Nebels, und viele Werke werden vor Beginn eines Festes gesegnet oder im Nebel versenkt, um sie der Göttin zu übergeben.
Sie ist ein Spiegel ihres Wesens: geheim, verschleiert, aber prachtvoll. Sie erschaffen Reliefs aus Ulna’sa, gravieren Linien in feuchtes Holz, die nur bei bestimmtem Licht sichtbar sind, und lassen Wasser als lebendiges Element in ihre Werke einfließen. Manche Bilder erscheinen nur für Sekunden, wenn Wind und Licht zusammentreffen. Doch nicht alles ist verborgen. In den Kernhöhlen der Sippen hängen funkelnde Schleier aus Glasfasern und Steinstaub, die wie Nebelvorhänge wirken, durchzogen von Lichtpunkten. Ihre Nester sind Orte der Stille, aber von überwältigender Schönheit.
Manche Graustimmen lassen während der Schwurfeiern Muster aus leuchtendem Staub über den Boden streuen, die im Nebel wie schwebende Runen wirken. Diese Kunst gilt als heilig, denn sie vergeht, sobald man sie zu lange betrachtet.
Ein Fremder mag nichts davon sehen, doch wer je mit ihnen lebte, sagt: „Die Ulnefjarr bauen ihre Welt aus Schatten – und sie leuchtet von innen.“
Sprache & Namen
Ihre Sprache, das Fjarrn, ist weich, blubbernd und rhythmisch. Sie bevorzugt Konsonantencluster und gedehnte Vokale, die sich im Nebel tragen. Namen sind fließend; viele bestehen aus zwei Teilen – einem Laut der Sippe und einem Laut der Stimmung. So kann derselbe Ulnefjarr verschiedene Namen führen, je nachdem, wer ihn ruft. Ein Reisender mag meinen, mit vielen gesprochen zu haben, wo in Wahrheit nur einer antwortete.
Worte des Nebels
„Der Nebel lügt nicht – er verschweigt bloß.“
„Wer laut spricht, verliert, bevor er verstanden wird.“
„Ein Sporn kann lähmen, doch ein Wort kann töten.“
„Wir zeigen, was wir verbergen – und verbergen, was wir zeigen.“
„Im Schlamm sind wir geboren, im Schweigen werden wir erinnert.“




