Ritual des Verborgenen Samens
Das Ritual des Verborgenen Samens gehört zu den tiefgründigsten und ältesten Zeremonien der Markafólk und wird ausschließlich in der Nacht der Wintersonnenwende begangen. Es wurzelt im Glauben an Eldhara, die Göttin der Erneuerung und des Lichts, deren Kraft sich im Rückzug der Sonne nicht verliert, sondern in der Tiefe weiterwirkt – unsichtbar, doch ungebrochen. In einer Landschaft, in der Frost und Dunkelheit über Wochen hinweg das Land umschließen, steht dieses Ritual sinnbildlich für den Akt des Vertrauens: dass unter der schlafenden Erde neues Leben wartet.
Die Gemeinschaft zieht in dieser Nacht aus ihren Siedlungen auf die Felder hinaus, wo jeder Einzelne eine Samenkapsel mit sich trägt – in Ljuslin gehüllt, einem feinen, lichtspeichernden Stoff, der aus den Fasern bestimmter Uferpflanzen gewonnen wird. Diese Kapseln sind keine landwirtschaftlichen Werkzeuge, sondern symbolische Träger persönlicher Wünsche, Schwüre und Verluste, die im vergangenen Zyklus erlebt wurden. Die Runenstickereien erzählen stumme Geschichten von Hoffnung, Abschied, Schuld und Sehnsucht – Geschichten, die nun der Erde anvertraut werden.
Zentraler Moment des Rituals ist das Entzünden des Runenfeuers durch die Ältesten. Das verwendete Holz stammt aus alten Hainen und wird über das Jahr hinweg gesammelt und mit Segenszeichen versehen. Die Flammen, die daraus emporsteigen, gelten als sichtbare Stimme Eldharas. Während der rituelle Singsang erklingt – ein Ton, der irgendwo zwischen Lied, Gebet und Erinnerung schwebt – treten die Familien nacheinander in den Kreis und legen ihre Samenkapseln in den gefrorenen Boden. Sie säen nicht für Nahrung, sondern für Sinn, für innere Wandlung, für das, was aus Licht und Geduld geboren wird.
Gegen Ende der Nacht bilden die Versammelten einen weiten Kreis um das Feld, in dessen Mitte nun Glühlichter flackern und Laternen aus gefrorenem Wasser still leuchten. Jedes Licht wird einem Gedanken gewidmet – manche sprechen ihn laut aus, andere schweigen ihn nur. Die Jugend hält die letzte Wache, eine stille Ehrung ihrer zukünftigen Verantwortung, während der Atem der Felder in Nebelschwaden aufsteigt. Wenn am Morgen der erste Sonnenstrahl den Horizont berührt, heißt es, Eldharas Blick falle auf den Acker – und der neue Zyklus beginne, noch unbemerkt, aber schon entschieden.
So erinnert das Ritual des Verborgenen Samens jedes Jahr aufs Neue daran, dass selbst im tiefsten Winter, im erstarrten Schweigen und unter dem schwersten Schatten das Licht nicht gestorben ist – sondern wartet, dass jemand an es glaubt.