Die ersten Götter
Vor Äonen lag die Welt in unendlicher Stille, eingehüllt in eine undurchdringliche Decke aus Eis. Kein Wind regte die Luft, kein Wasser brach die frostige Ödnis – als ob die Schöpfung den ersten zündenden Atemzug des Kosmos erwartete. Doch jede verharrende Ordnung ist nur von kurzer Dauer: Tief in den strömenden Weiten des Universums regte sich eine Kraft, geboren nicht aus bewusster Planung, sondern aus der schieren Notwendigkeit des Wandels.
Ein gewaltiger Funken – weit mehr als ein schüchterner Lichtschein – entlud sich, als Feuer und Eis in einem majestätischen Tanz aufeinandertrafen. In diesem urtümlichen Zusammenprall zerbrach die ewige Kälte in unzählige schimmernde Fragmente, und die erstarrte Welt wurde vom pulsierenden Atem des Kosmos berührt. So erhob sich die erste Kraft, die über das neu entstehende Universum wachen sollte: Gardnar, der Hüter des Gleichgewichts.
Er zeigte sich nicht als wandelbare Gestalt oder als Herrscher, sondern als eine uralte Eiche, deren gewaltige Wurzeln tief in den Ländern der Erde verankert sind und deren mächtige Äste den Himmel zu berühren scheinen. In seinem Wesen vereinen sich die Energie des Feuers und die stille Präsenz des Eises – er schmolz das Eis, ohne es ganz zu vertreiben, und schuf damit den stabilen Rahmen, auf dem jede weitere Bewegung der Schöpfung basierte.
Doch eine Welt, die nur auf festen Fundamenten ruht, bleibt stumm. Es bedurfte Bewegung, um das Universum zum Leben zu erwecken. Aus der sanften Glut der Umwälzung erhob sich Eldhara, das strahlende Wesen der Erneuerung. Ihr Licht war kein loderndes Feuer, sondern das zarte Strahlen eines ersten Frühlingsmorgens. Sie hauchte dem Land Leben ein – das erste Flüstern von Wärme, das den Kampf gegen die uralte Kälte aufnahm.
Kaum hatte Eldhara die Welt erfüllt, trat ihr Bruder Hrimnir aus den frostigen Schatten hervor. Während Eldhara den Impuls zur Bewegung schenkte, bewahrte Hrimnir die notwendige Stille und Beständigkeit. Er ist das Gesetz des Winters, das ruhige Innehalten, das jedes Wachstum unterstützt. Ohne Hrimnir bliebe alles in einem endlosen Erstarren, ohne Eldhara stünde nichts still – ihr Zusammenspiel sichert das empfindliche Gleichgewicht.
Auf diesem soliden Fundament begann sich die Welt zu wandeln – und sie sollte mehr werden als nur die alternierenden Jahreszeiten. Eldhara erkannte, dass die Natur in ihrer ungezähmten Vielfalt noch weitere Ausdrucksformen benötigte. So wurden die Elementargötter ins Leben gerufen – freie, eigenständige Wesen, deren Existenz untrennbar mit den ersten Göttern verbunden ist.
Als Gardnars Kraft das urfrostige Eis zum Schmelzen brachte, erhob sich Seltana, die Göttin der Berge. In den schroffen Höhen, wo Lawinen und Erdbeben den Kampf zwischen Kälte und Bewegung symbolisieren, trägt sie in sich die tief ses Wurzeln der Erde, die von Gardnar stammen. Die frostige Luft der Gipfel, ein Spiegel Hrimnirs, und der unaufhaltsame Antrieb Eldharas vereinen sich in ihrem Wesen.
Aus den ersten fließenden Bächen, die aus dem geschmolzenen Eis hervorgingen, wurde Saelari geboren – der stille Heiler des Wassers. Sein Wesen zeugt von Gardnars stabilisierendem Einfluss, der das Wasser in klaren Strömen bändigt, von Hrimnirs ruhiger Präsenz, die sich in den unbewegten Spiegeln der Seen zeigt, und von Eldharas Impuls, der lebensspendende Erneuerung verleiht.
Als die Meere sich endlich von der Kälte befreiten, formte sich Hafnira, die Göttin der ungezähmten See. Sie ist das Inbegriffliche des stürmischen Wassers – ein Zusammenspiel der wilden Natur, das nur möglich ist, weil Gardnar das Meer zusammenhält. Hrimnirs leise Ruhe schwingt in den Augenblicken, in denen das Wasser flach liegt, während Eldharas Schaffenskraft sich in den aufbrausenden Wellen manifestiert.
Smidar, der Gott des ewigen Wandels, entstand als das natürliche Bindeglied zwischen Bewegung und Stille. Er verkörpert den Zyklus der Natur – vom ersten Tau des Frühlings bis zum letzten Frost des Winters. Sein stetiges Wechselspiel ist nur möglich dank der festen Basis Gardnars und der beruhigenden Präsenz Hrimnirs, die Eldharas Funken der Erneuerung in regelmäßige, geordnete Zyklen überführt.
Doch selbst diese Kräfte, so elementar sie sein mögen, umfassen nicht ganz den Übergang zwischen Leben und Tod, zwischen Vergänglichkeit und Neubeginn. Um das Bild der Schöpfung zu vervollständigen, erwachte Nalindr – die Göttin des Schicksals, der Erinnerung und des letzten Wegs. Ihre Erscheinung ist zart, beinahe vergänglich, und sie webt das unsichtbare Band, das alle Lebenswege miteinander verknüpft. Ihre Weisheit entspringt aus den tiefen Wurzeln Gardnars, den stillen Gesetzmäßigkeiten Hrimnirs und dem stetigen Schaffensdrang Eldharas.
Als Gegenpol zu dieser stillen Melancholie trat Fíran in die Welt – der Gott des Lächelns, der ungebändigten Lebensfreude und des Augenblicks. Er erinnert die Sterblichen daran, dass auch in der tiefsten Dunkelheit stets ein Licht zu finden ist. Fírans Energie durchdringt den Kosmos mit einem strahlenden Humor, der den Kreislauf von Abschied und Neubeginn auflockert und die Freude am Dasein bekräftigt.
Schließlich wurde Mana, die Göttin des eruptiven Chaos, ins Leben gerufen. Eldhara erkannte, dass selbst in einer wohlgeordneten Welt der Moment spontaner Umwälzung unverzichtbar ist – ein Feuerausbruch, ein plötzlicher Vulkanausbruch, der das Alte hinwegfegt, um Raum für das Neue zu schaffen. Mana verkörpert diese unzähmbare Kraft. Doch auch ihr wird durch Gardnars Stabilität und Hrimnirs konsequente Ruhe ein Rahmen gesetzt, sodass jeder Ausbruch letztlich in einen geordneten Zyklus mündet.
So ist die Schöpfung vollkommen – ein harmonisches Geflecht aus Kraft und Wechselspiel. Gardnar, Eldhara und Hrimnir, die ersten Götter, haben den sicheren Rahmen geschaffen, aus dessen Essenz die Elementargötter hervorgingen: Seltana, Saelari, Hafnira, Smidar, Nalindr, Fíran und Mana. Jeder von ihnen existiert eigenständig, doch keiner ohne die Grundlage, die ihnen von den Uralten geschenkt wurde.