Der Weber

Das Weben der Welt

In den ersten Tagen der Zeit war die Welt ein wilder, ungezähmter Sturm aus Chaos. Nichts blieb, nichts hatte Bestand – Wellen brachen ohne Ufer, der Himmel war ein wirbelnder Strudel aus Schatten und Licht, und die Erde bebte, ohne Form zu finden. Die Kräfte der Welt rasten durch das Nichts wie unstete Winde, ruhelos und ungerichtet. Doch zwischen all diesen tosenden Strömungen, verborgen in der Bewegung selbst, erwachte eine Präsenz, die nicht aus Fleisch oder Stein bestand, sondern aus Gedanken und Fäden. Der Weber erhob sich nicht aus der Erde – er war die Ordnung, die sich gegen das Chaos formte.

Als er seine ersten Fäden spannte, kämpfte das Chaos gegen ihn. Es schlug zurück, versuchte, seine Strukturen zu zerreißen, die Ordnung zu ersticken, bevor sie Wurzeln schlagen konnte. Doch der Weber war geduldig. Statt das Chaos zu vernichten, ließ er es durch sein Netz fließen, lehrte es, sich zu formen, statt zu zerstören. Nach und nach verband er die wilden Kräfte zu einem Muster, erschuf den Himmel und die Erde, die Strömungen der Winde und das Flüstern der Wasser. Und dann, als das Geflecht der Welt vollendet war, konnte das erste Leben in ihm atmen.

Doch etwas fehlte. Die Strömungen waren ruhig geworden, aber sie lagen still, und der Weber wusste: Die Welt konnte nicht statisch bleiben. Sie musste wandern, sich bewegen, sich erneuern, damit das Lebensnetz niemals erstarrt. So erschuf er Keloris, eine Insel, die nie ganz fest in der Erde verankert war, sondern mit den Strömungen wuchs, sich bewegte und wandelte. Ihre Lebensknoten waren die stärksten, ihre Erde atmete mit dem Puls der Welt. Auf ihr würde das Wissen des Webers bewahrt werden, seine Fäden in den Steinen, den Wurzeln, den Sternen über den Hügeln.

Doch die Strömungen brauchten Wächter. Jemand musste ihre Muster erkennen, ihre Zeichen lesen und ihre Bewegungen deuten. Aus den ersten Nebeln formte der Weber die Rentiere, Wanderer zwischen den Welten, die niemals verweilen, sondern immer weiterziehen. Ihre Pfade sind nicht zufällig – jedes von ihnen folgt einem verborgenen Rhythmus, einem Echo aus dem Lebensnetz selbst. Sie tragen die Geschichten der Ahnen in ihren Schritten, ihr Fell nimmt die Zeichen der Zeit auf, und ihre Geweihe wachsen wie die Muster des Webens, verzweigt, komplex, ein Zeichen für den ewigen Kreislauf.

Die Tuath’vayra wissen, dass die Rentiere keine gewöhnlichen Tiere sind. Sie folgen ihnen, nicht nur als Jäger, sondern als Schüler, denn in ihren Bewegungen liegt die Weisheit des Webers. Wenn ein Rentier seine Richtung unerwartet ändert oder die Herden in seltsamen Formationen laufen, wissen die Ältesten, dass sich das Netz verändert. Sie lesen in den Spuren der Tiere, als wären sie gezeichnete Runen, sie hören in ihren Rufen die Stimmen der Vergangenheit. Es wird gesagt, dass kein Weber jemals mit Worten spricht – doch wer die Rentiere beobachtet, kann seine Botschaften verstehen.

Göttliche Klassifizierung
Gott
Kirche/Kult
Children