Brina Linsang
Die Frau aus Lichterhain
Manche Menschen wirken wie der späte Sommer: warm, ein wenig müde, aber voller Leben. Brina Linsang ist so jemand. Sie lebt in einem kleinen, verwachsenen Haus nahe des Marktplatzes von Lichterhain, nicht versteckt, aber auch nicht ganz im Blickfeld der Welt. Dort pflegt sie ihren Garten, lehrt Kinder die Namen der Kräuter, kocht Tinkturen, salbt Wunden, spricht selten, aber mit Wirkung. Die Menschen nennen sie Tante Brina, mit Zuneigung und Respekt, denn sie war immer schon da. Und sie scheint genau zu wissen, was man braucht, ohne dass man es sagen muss. Ihr Zuhause ist voll von alten, wohlriechenden Hölzern, Glasgefäßen mit getrockneten Blättern, und einem kleinen Ofen, auf dem immer ein Topf mit irgendetwas Säuerlichem oder Süßigem vor sich hinbrodelt. Wer einmal dort war, vergisst den Duft nicht.
Der Blick hinter die Fassade
Doch wer in ihren Augen länger verweilt, spürt etwas, das nicht ganz zum Bild passt. Ihre Haltung ist zu aufrecht für ihr Alter, ihr Schritt zu ruhig für ein gewöhnliches Leben, und ihr Schweigen ist nicht leer – es ist beladen mit dem, was sie nicht sagt. Ihre Hände, die mit Lavendelöl Haut beruhigen, kennen auch andere Druckpunkte. Einst, in einer engen Seitengasse von Tarendal, hatte sie einen aufgebrachten Mann entwaffnet, der in blinder Wut auf einen Boten losgehen wollte. Sie hatte ihm nur zwei Finger an die Schulter gelegt, kaum sichtbar – und er war zusammengesunken wie ein leerer Sack. Nicht verletzt, nur außer Gefecht. Später hatte sie ihm einen Umschlag mit Tinktur dagelassen. Niemand wusste, wie sie ihn gestoppt hatte. Nur Elira hatte sie danach angelächelt und genickt. Und wenn sie das Fenster schließt, tut sie es nicht nur wegen der Kälte. Sie beobachtet die Straße mit einem Blick, der nicht nach Gefahren sucht, sondern sie erkennt, bevor sie eintreten. In ihren Bewegungen liegt Wachsamkeit, in ihrem Lächeln ein letzter Rest Melancholie.
Ein anderes Leben: Kaila Thana
Brina war nicht immer Brina. In einem anderen Leben, einem anderen Namen, war sie Kaila Thana, eine Frau mittleren Alters mit streng gebundenem Haar, wetterfester Haut und dem wachen Blick eines Habichts. Als Leibwächterin der Adelsfrau Elira von Tharion – einer Frau, deren Stimme höfische Audienzen lenkte, deren Blick mehr sah, als höflich gewesen wäre. Elira war mehr als Adelige: Sie war Spionin für einen geheimen Orden, der gegen einen Kult aus den Schatten kämpfte – eine nekromantische Bewegung, getarnt als theologische Bruderschaft, durchsetzt mit alten Blutlinien und dunklen Zielen. Der Orden, dem Elira diente, war klein, zersplittert, verborgen – und wurde fast ausgelöscht, als man sie vergiftete. Kaila hatte lange an ihrer Seite gedient, loyal, diskret, voller innerer Widersprüche. Sie sah sich nie als Heldin, nur als Schild für eine, die mehr Bedeutung trug als ihr eigenes Leben.
Kaila war bei ihr, als sie starb. Und Elira, im letzten klaren Atem, sprach die Worte, die seither wie ein Mantra in Brinas Knochen leben: „Wenn der Nebel die Glocken verschluckt, und das Kind den Namen trägt – dann öffne es.“ Sie übergab ihr ein versiegeltes Pergament, gab ihr einen Blick, der mehr bedeutete als jedes Siegel, und starb mit einem Rest Vertrauen auf der Zunge. Brina floh. Nicht, weil sie Angst hatte. Sondern weil sie wusste: Sie hatte etwas übernommen, das niemand kennen durfte – außer in der Stunde größter Not. Der Weg in ein anderes Leben war nicht leicht, aber sie kannte die Kunst, sich zu verändern, die Spur zu verwischen. Brina wurde geboren aus Notwendigkeit, nicht aus Sehnsucht.
Die stille Kraft in Lichterhain
Seitdem lebt sie zurückgezogen, doch nicht im Versteck. Ihre Gegenwart in Lichterhain ist kein Schattenleben, sondern eine bewusste Wahl. Sie ist keine Heilige, aber sie ist zuverlässig. Sie hat keine eigenen Kinder, aber unzählige, die sie Tante nennen. Sie pflegt Kräuter, sie heilt Wunden, sie lehrt mit Geduld, sie duldet keine Dummheit – und sie fragt nie nach Geschichten, die jemand nicht erzählen will. Dafür kennt sie das Gewicht solcher Dinge zu gut. Manchmal, wenn ein Kind sie fragt, ob sie früher einmal jemand anderes war, lächelt sie nur und sagt: "Ich war immer jemand, der hilft." Aber ihre Augen sagen etwas anderes.
Die Mönchin der Gnade
Doch Brina ist nicht nur Heilerin. Sie ist Mönchin. Nicht im Sinne von Kutten oder Gebeten, sondern im Körper, in der Haltung, im Atem. Sie folgt dem Pfad der Gnade – einer Tradition, die Schmerz nicht meidet, sondern ihn versteht. In ihr lebt das Wissen der Way of Mercy-Mönche, eine Lehre der zweischneidigen Hand: heilend und tödlich zugleich. Die alten Überlieferungen sprechen von Mönchen, die zwischen Leben und Tod wandelten, nicht als Richter, sondern als Gleichgewicht. Brina kennt jede Technik, jede Linie entlang des menschlichen Nervensystems, die entscheidet, ob jemand erwacht – oder fällt.
Wenn Brina kämpft – was selten geschieht, aber nie zögerlich – verändert sich ihre ganze Präsenz. Ihre Bewegungen werden fließend, ihre Atmung flach, ihr Gesicht ausdruckslos wie ein Spiegel. Sie trägt keine Rüstung. Ihre Verteidigung liegt im Blick, im Schritt, in der Vorbereitung. Jede ihrer Bewegungen dient einem Zweck – nicht dem Sieg, sondern der Entscheidung: Lebt der andere – oder nicht? Und obwohl sie jeden Moment mit vollendeter Kontrolle ausführt, liegt in ihr eine Zurückhaltung, ein letzter Wunsch, es möge nicht nötig sein.
Die Techniken, die sie anwendet, stammen aus einem Wissen, das älter ist als jede Armee: gezielte Schläge auf Nervenpunkte, gelenkte Energie, Ki – die innere Kraft, die sie als Puls in ihren Gliedern fühlt. Ihre Hände können Leben retten – oder es auslöschen. Und sie wählt. Jedes Mal. Aus Überzeugung. Nicht aus Wut. In der Stille vor einem Kampf sieht man sie manchmal ihre Finger kreisen lassen, ein uralter Reflex, der einst Teil eines Rituals war. Heute ist es nur Erinnerung. Und doch lässt sie sie nie aus.
Im Spiel
Im Spiel bringt Brina eine ruhige, tragende Kraft in jede Gruppe. In einem Moment der Bedrohung – etwa wenn ein Dorf überfallen wird oder ein Verbündeter unter Verdacht gerät – ist sie diejenige, die zwischen den Fronten steht, mit ruhiger Stimme Befehle verteilt und gleichzeitig Verletzte versorgt. Sie setzt klare Prioritäten, schützt die Schwachen und geht in die Offensive, wenn niemand sonst wagt, den ersten Schritt zu tun. Ihre Präsenz gibt Struktur, wenn Chaos droht. Sie redet wenig, hört viel, gibt Hilfe, ohne Bedingungen zu stellen. Doch wenn Gefahr droht, übernimmt sie. Ihre Stimme wird hart, ihre Worte kurz, ihre Präsenz unmissverständlich. Sie führt, weil sie es gewohnt ist, wenn es zählt – und weil sie weiß, dass manche Entscheidungen niemand sonst treffen will. Ihr Flurry of Blows ist nicht beeindruckend – es ist erschreckend präzise. Ihr Hand of Healing heilt nicht nur Fleisch, sondern Angst. Ihr Hand of Harm ist selten – aber unausweichlich. Ihre Fähigkeiten erlauben ihr, das Feld der Schlacht zu lesen wie ein Buch, dessen Kapitel sie selbst geschrieben hat.
Die innere Lüge
Brina ist keine, die sich zum Mittelpunkt drängt. Doch sie duldet keine Ignoranz gegenüber alten Mächten, keinen Spott gegenüber dem, was sie verloren hat. Schon früh im Text spürt man, dass Brina sich selbst zurücknimmt, als wäre ihre Existenz eine Art Dienstleistung an die Welt – ein leiser Schatten aus einer vergangenen Schuld. Diese Zurückhaltung, dieses beständige Dienen, wurzelt tief in einer inneren Überzeugung, die sie sich selbst nie laut eingestanden hat: Sie lebt mit einer Lüge, die sie sich tief ins Herz gepflanzt hat: „Ich bin nur etwas wert, wenn ich bereit bin, mich selbst zu opfern.“ Deshalb hilft sie, aber fordert nie. Gibt, aber nimmt nichts an. Doch in stillen Momenten, wenn der Tee vergessen ist und das Licht zu weich fällt, erlaubt sie sich einen Gedanken, den sie nie ausspricht: „Ich darf leben – auch wenn ich nicht alles verhindern kann.“
Epilog
Vielleicht wird dieser Gedanke irgendwann Wahrheit. Vielleicht wird sie das Pergament öffnen. Vielleicht wird sie wieder töten – nicht aus Rache, sondern weil sie die Letzte ist, die weiß, wie es damals war. Vielleicht wird sie jemanden treffen, der sie daran erinnert, dass sie mehr ist als ihr Eid. Vielleicht.
Doch heute streift sie durch ihren Garten, zählt Wurzeln, sortiert Träume, summt Lieder ohne Worte. Dabei trägt sie eine schlichte, aber kunstvoll gearbeitete Brosche aus dunklem Silber unter ihrer Schürze – ein Erbstück aus Eliras Hand, verborgen, doch stets nah an ihrem Herzen. Manchmal, wenn der Wind in einer bestimmten Weise durch die Äste fährt, streicht sie unbewusst mit den Fingern darüber – eine Geste, die ihr Halt gibt, wie ein stilles Gebet in vergessener Sprache. Und wartet. Nicht auf einen Boten. Nicht auf ein Zeichen. Sondern auf jenen leisen Moment, in dem sie spürt, dass das Gleichgewicht kippt. Dann wird sie bereit sein.