Ísvengr
Wenn das Eis atmet, erwacht der Wächter.
Der Schmelzdrache von Frostglen
Tief unter den Eismassen von Frostglen, wo selbst das Licht der Sonne nur als blasses Schimmern durch die Jahrtausende dringt, ruht Ísvengr, der Schmelzdrache. Dort, wo das Eis singt und der Frost nie vergeht, schläft er – nicht tot, sondern geborgen im Herzschlag der Erde. In den Mythen von Frostvir gilt er als Beschützer und Mysterium zugleich: ein Wesen, das nicht herrscht, sondern bewahrt.
Seine Anwesenheit spürt man, bevor man sie sieht. Die Luft wird klarer, der Schnee beginnt, in feinen Spiralen zu tanzen, und eine uralte Ruhe legt sich über die Landschaft. Manche sagen, der Atem Ísvengrs sei es, der das Gleichgewicht der Jahreszeiten wahrt – dass ohne ihn der Winter endlos dauern oder die Sommer brennen würden.
Der Ewige Wächter von Frostglen
Ísvengr ist mehr als ein Drache. Er ist das Band zwischen Leben und Eis, eine Verkörperung des Kreislaufs, der Frostvir formt. Im tiefsten Winter verschmilzt sein Leib mit dem Gletscher, wird eins mit dem gefrorenen Fels, bis selbst sein Atem zu Schnee wird. Kein Laut verrät seine Existenz, nur die Stille – eine vollkommene, ehrfurchtgebietende Leere.
Wenn das Frühjahr naht, erwacht er langsam. Zuerst das Knacken des Eises, dann das Dröhnen aus der Tiefe. Der Gletscher selbst scheint zu atmen, während sich Risse öffnen und kristallines Licht aus dem Inneren bricht. Mit diesem Klang erhebt sich Ísvengr, der Schmelzdrache, nicht als Zerstörer, sondern als Wandler zwischen den Zeiten.
Ein Körper aus Eis und Bewegung
Sein Leib ist eine lebendige Skulptur aus Eis. Kristalline Schuppen überziehen ihn wie Spiegel des Winters, jede einzelne ein Fragment des Lichts. Wenn er sich bewegt, gleitet das Glitzern über ihn wie fließendes Wasser. Sein Flug ist lautlos, getragen vom Wind, der ihm gehorcht.
Ísvengr kann sich in den Gletscher selbst auflösen, sein Körper zerfällt in Frost und Nebel, um an anderer Stelle wieder Gestalt anzunehmen. Seine Flügel sind mächtig und von durchscheinender Struktur, geschaffen, um die Höhen Frostvirs und die Weiten des Eismeers gleichermaßen zu durchqueren. In der Ferne gleicht sein Schatten einem wandernden Sturm.
Die Bewahrung der Vergangenheit
Die alten Sagen erzählen, dass Ísvengr über die Ruinen einer vergessenen Zivilisation wacht. Unter Frostglen liegen Relikte und Hallen, verschlungen vom Eis, die nur er kennt. Wenn er erwacht, brechen manchmal Teile dieser uralten Stätten aus dem Gletscher hervor – Statuen, Tempelreste, Spuren einer Zeit, die kein Mensch mehr erinnert.
Er kommuniziert nicht mit Worten, sondern mit Bildern und Gefühlen. Seine Gedanken sind Träume aus Licht, Erinnerung und Frost, die er wenigen Auserwählten offenbart. Manche nennen es Visionen, andere Flüche – doch alle spüren darin die Wahrheit einer untergegangenen Welt.
Das Kalte Feuer
Ísvengr trägt ein paradoxes Element in sich: das kalte Feuer. Wenn er es entfesselt, züngeln Flammen aus bläulichem Licht hervor, still und tödlich. Sie brennen nicht, sie gefrieren. Wo sie treffen, splittert Fleisch, Stein oder Stahl wie Glas.
Dieses Feuer ist von unirdischer Schönheit – lautlos, langsam, fast anmutig. Auf dem Meer kann es ganze Wellen zu Eis erstarren lassen, und selbst große Kreaturen der Tiefe erliegen seinem Frost. In den Augen der Seeleute ist sein Erscheinen ein Segen, denn Ísvengr beruhigt die Stürme und vertreibt die Ungeheuer der Tiefe.
Die Jagd und das Gleichgewicht
Ísvengr jagt nicht aus Hunger oder Wut. Er handelt nach dem Prinzip des Gleichgewichts. Wenn ein Tier zu zahlreich wird oder die Natur zu leiden beginnt, greift er ein – präzise, unerbittlich, aber niemals grausam. Er ist der Richter der Wildnis, nicht ihr Feind.
Seine seltenen Flüge über das Meer gelten als gute Omen. Kapitäne entzünden Kerzen oder legen kleine Opfergaben aus Eis auf das Deck, wenn sie seinen Schatten erblicken. Denn wo Ísvengr wacht, bleibt der Sturm fern.
Der Kult von Skaldhuld
In Frostglen gibt es jene, die seine Sprache zu verstehen glauben: die Gemeinschaft der Skaldhuld, „die Worte des Eises“. Sie sehen Ísvengr als Bewahrer der Erinnerung, als lebendiges Archiv einer verlorenen Welt.
Die Skaldhuld deuten die Bewegungen des Gletschers, die Muster des Schmelzwassers und die Risse im Eis als Botschaften. In ihren Ritualen zeichnen sie die Visionen nach, die der Schmelzdrache ihnen sendet – Bruchstücke uralter Städte, flackernde Schatten von Göttern, deren Namen längst vergessen sind.
Für sie ist Ísvengr kein Tier, sondern ein heiliges Prinzip – die Manifestation des Wissens, das nie stirbt, sondern nur schläft.
Ein Missverstandenes Wesen
Viele fürchten Ísvengr. Sie sehen in ihm den Geist des Winters, einen Rächer, der Dörfer verschlingt und Stürme ruft. Doch die Wahrheit ist anders. Ísvengr urteilt nicht in menschlichen Begriffen von Gut und Böse. Er schützt, was im Gleichgewicht steht, und vernichtet, was dieses Gleichgewicht bedroht.
Wer ihm begegnet, spürt nicht Hass, sondern Prüfung. In seinem Blick liegt die Frage, ob man würdig ist, in einer Welt zu leben, die er seit Anbeginn bewacht.
Zitat
„Ich sah ihn im Tauwind des Frühlings. Das Eis sang, und aus seinem Gesang hob sich ein Drache – so alt, dass selbst der Schnee ehrfürchtig schwieg.“
— Skaldin Yrda von Frostglen
