Die Gazelle und der Kranich
Im Schatten der Kuria-Digudri lebte einst ein großer König, der zwölf Ehefrauen hatte. Eines Tages zog der König in den Krieg gegen die Ametiker im hohen Norden. Nach drei Jahren konnte der König endlich den entscheidenenden Sieg erringen und machte sich mit seinen Truppen auf den Rückweg. Doch er verirrte sich und durchstreifte die grauen Wälder, stinkenden Sümpfe und verdorrten Hügel bis er an einen kümmerlichen Fluss kam, an dem die Flügel einer alten Mühle im Wind ächzten. Als er an der Tür klopfte, öffnete ihm eine alte Frau, die genau so knorrig aussah wie die Mühle. Der König bat darum, dass ihm die Alte den Weg weisen möchte und fragte, ob er und seine Truppen über Nacht ihr Lager aufschlagen dürften. Die Frau stimmte zu.
Während die Truppe das Lager errichtete, machte sich der König mit ein paar Gefolgsleuten auf die Jagd. Erst als der Abend hereinbrach, sahen sie am Horizont eine golden leuchtende Gazelle und jagten ihr nach. Geblendet von der Schönheit und Leuchtkraft der Gazelle, tötete der König seine Gefolgsleute. Da verwandelte sich die Gazelle vor seinen Augen in eine wunderschöne Frau. Ihr goldenes Haar umsäumte ihre nackte Gestalt. Der König verliebte sich augenblicklich und verbrachte die ganze Nacht mit ihr. Als er am nächsten Tag zurück zur Mühle kam, verriet ihm die runzlige Müllerin unter der Bedingung den Weg nach Hause, wenn eine seiner Töchter ihren Sohn zum Ehemann nehmen würde. Der König hatte keine Töchter und so willigte er ein.
Als er im Palast eintrat, standen seine zwölf Ehefrauen vor ihm. Tränen der Freude und der Wehmut standen in seinen Augen, als er erkannte, dass jede von ihnen dem König ein Kind geboren hatte. Es waren elf Söhne und eine Tochter. Die Jahre vergingen und die Kinder des Königs wuchsen heran. Der König war in die Jahre gekommen und hatte mittlerweile vergessen, was er einst der alten Müllerin versprochen hatte. Als anlässlich des 20. Geburtstages der Prinzessin ein großes Fest im Schloss gefeiert wurde, mischte sich eine geheimnisvolle Frau unter die Gäste. Ihr Haar glänzte golden wie die Sohne und ihr Kleid aus orangenem Brokat durchwirkt mit goldenen Fäden erhellte den ganzen Saal. Der König erkannte in ihr die Zauberin, die er vor Jahren als Gazelle gejagt hatte und erstarrte als sie vor ihm stand. Dann begann sie zu sprechen und sagte, dass der König einst einer alten Müllerin ein Versprechen gegeben hatte. Dann verschwand die Zauberin.
Alle redeten auf den König ein und so erzählte er von dem Versprechen, was er gegeben hatte. Die Prinzessin aber hatte keine Angst und machte sich umgehend auf dem Weg. Sie suchte mehrere Jahre, doch konnte sie die knorrige Mühle, von der ihr Vater gesprochen hatte, nicht finden. So befragte sie die Bäume des grauen Waldes, ob sie von einer alten Mühle wüssten. Die Blätter wisperten, sie müsse die purpurne Schlange des Sumpfes befragen. So machte sich die Prinzessin auf den Weg zum stinkenden Sumpf und fand die Schlange, die ihr riet, dem Wasserlauf zu folgen, der den Sumpf speiste. Die Prinzessin tat wie ihr gehießen und fand nach drei Tagesreisen die klapprige Mühle wie einst ihr Vater. Sie versteckte ihr Reittier, wetzte ihre Kleider ab und tränkte sie in Schlamm, damit die Müllern nicht ihr königliches Geblüt erahnen konnte. Dann machte sie sich auf den Weg zur Mühle.
Die Prinzessin klopfte an die Tür, doch niemand öffnete ihr. Sie ging sie hinein und durchsuchte alle Zimmer. Plötzlich umhüllte die Prinzessin ein goldener Schein und die geheimnisvolle Zauberin aus dem Ballsaal stand vor ihr. Sie erkannte in der Prinzessin die Tochter des Königs und bereits am nächsten Tag sollte die Hochzeit stattfinden.
Der Bräutigam stand bereits am Altar, als die Prinzessin auf ihn zuschritt, doch war sein Ansblick so scheußlich, dass jeder sich von ihm abwenden würde. Die Prinzessin aber schritt mutig auf den Altar zu und nahm die Hand des Zukünftigen in ihre Hände, während die Zauberin das Eheversprechen abnahm.
Als die Nacht hereinbrach und die Ehe hätte vollzogen werden müssen, fand die Prinzessin ihren Gatten nicht in der Kammer und suchte nach ihm. Trotz seinen Anblicks wollte sie ihm eine liebe und getreue Frau sein. Sie fand ihn am Fluss, als er seinen Körper badete. Der Schein des Mondes lies das Wasser auf der Haut glitzern und die Prinzessin vergaß sein abscheuliches Aussehen, streifte ihre Kleider ab und stieg zu ihrem Gatten in den Fluss, um sich mit ihm zu vereinen.
Tagsüber half die Prinzessin dem Gatten bei der Bewirtschaftung der Mühle, abends liebten sich die beiden am Fluss und langsam fühlte die Königstochter eine tiefe Verbindung zu ihrem Ehemann. Obwohl dies die Zauberin gehofft hatte, fühlte sie eine aufkeimende Eifersucht in sich und so verzauberte sie die Prinzessin eines nachts, als sie sich wieder auf den Weg zum Fluss begab, in einen Kranich. Ihrem Sohn aber befahl sie, er möge den Kranich für seine Mutter fangen. Der Sohn versuchte, den Vogel zu jagen. Doch dieser flog immer wieder davon. Da kam der Sohn an den Sumpf und stieß auf die purpurne Schlange. Er fragte die Schlange, ob sie den Kranich gesehen hätte und diese antwortete, der Kranich wäre genau so wenig eine Vogel wie er ein Scheusal. Der Sohn der Zauberin verstand nicht, doch suchte er weiter. Dann kam er in den Grauwald und fragte die Bäume, ob sie den Kranich gesehen hätten. Doch auch die Blätter wisperten das Gleiche wie die Schlange.
Er konnte den Kranich nicht fangen und lief deshalb zurück zur Mühle, wo die Zauberin schon auf ihn wartete.
Seine Mutter zehterte, dass die Gattin ihres Sohnes geflohen wäre, während er sich auf der Suche nach dem Kranich befand und versuchte ihren Sohn mit sorgenden Worten zu trösten. Doch nichts half und ihr Sohn lief zum Fluss, um sich vor Kram hineinzustürzen.
Da sah er am anderen Ufer den Kranich stehend schlafen und schwamm leise zu ihm hinüber. Als er ihn packen wollte, flog der Kranich vor Schreck hoch und der Sohn konnte nur ein paar Schwanzfedern packen, die er dem schönen Tier ausries. Doch als er dies tat, sah er ein helles Glitzern unter dem Federkleid und erkannte das Rätsel, was ihm die Schlange und die Graubäume aufgegeben hatten. Der Kranich musste verzaubert sein und er lief in den Wald, um aus den Federn spitze Pfeile und aus Ästen der Bäume einen Bogen herzustellen.
Er lief zurück zur Mühle und bat seine Mutter um Hilfe. Er habe den Kranich im Wald entdeckt und ob sie ihm nicht in Gestalt der Gazelle bei der Jagd helfen könnte. Die Zauberin konnte nicht widerstehen und so verwandelte sie sich in die Gazelle und lief davon. Der Sohn nutzte jedoch seine Kräfte als Ungetüm und jagte nun seine Mutter. Als er sie gefunden hatte, verwundete er sie schwer mit den Kranichpfeilen. Die Zauberin verwandelte sich zurück und lag blutend zwischen den grauen Blättern des Waldes, die sich durch das Blut golden färbten. Ihr Sohn eilte zu ihr. Bevor sie ihre Augen für immer schloss, löste sie das Band all ihrer Zauber und starb in den Armen ihres Sohnes. Dieser bedeckte die Tote mit den goldenen Blättern, sodass sie eins mit dem Wald werden konnte, dann eilte er zurück zur Mühle.
Die Mühle war verschwunden und er sah seine Frau, doch ihre Augen waren voller Tränen. Er wollte wissen, warum sie weine und sie sagte, dass ihr guter Ehemann und ihr gemeinsames Zuhause verschwunden wäre. Da nahm er sie bei der Hand und führte diese an die Wange seines wunderschönen Gesichts. "Ich bin hier Geliebte." Die Prinzessin erkannte ihren Gatten und fiel ihn um den Hals. Dann machten Sie sich zusammen auf den Weg in das Königreich der Prinzessin und wurden beide vom König und dem ganzen Hofstaat aufs herzlichste begrüßt.






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