Der leere Thron

(1245–1246 AE)

Ein Reich fällt nicht, wenn der König fällt. Es fällt, wenn niemand mehr weiß, wessen Wort schwerer wiegt als Stahl.
— Annalen von Valcaryn, Buch XII

Ærondor ist in diesen Tagen kein brennendes Schlachtfeld, sondern ein knarrendes Gebälk: Ein Haus, das noch steht – aber in dessen Wänden es arbeitet, zieht und reißt. Der Thron ist besetzt, die Siegel werden gedrückt, die Münzen geprägt, die Glocken geläutet. Doch die Menschen spüren, dass das Reich nicht mehr aus Gewissheiten besteht, sondern aus Behauptungen.

Und weil Behauptungen verhandelbar sind, werden die Barone unruhig.

1. Der Kreuzzug nach Solmhar und das Schweigen der Krone

1.1. Der Ruf und die Last des Südens

Der Kreuzzug nach Solmhar begann nicht als Abenteuer, sondern als Eid. Prediger zogen über Marktplätze, die Bischöfe riefen zu Buße und Banner, und die Hofkapelle verkündete, die Wüste selbst sei ein Prüfstein, an dem sich die Reinheit des Reiches erweisen müsse.

Solmhar – der Wüstenkontinent – war für die meisten Ærondorer ein Wort wie „Meer“: groß, fremd, gefährlich. Das Ziel des Zuges war das „Land der Ungläubigen“, das man in den Chroniken später Sarruq nannte: ein Gürtel aus Oasenstädten, Festungen aus Lehmstein, Karawanenwegen, die wie Adern durch Salz und Sand laufen. Die Sarruqaner waren keine Barbaren, wie manche Kanzelstimmen behaupteten, sondern Gegner mit eigener Ordnung, eigenem Recht – und eigener Geduld.

Der König zog selbst. Und das war der Wendepunkt.

Denn er nahm nicht nur Ritter mit sich, sondern:

  • die erfahrensten Bannerherren,
  • Teile der königlichen Leibwache,
  • den Obermarschall und die bewährten Hauptleute,
  • Schreiber, Richter und Schatzmeister, deren Hände die unsichtbaren Fäden des Reiches hielten.

Der Hof leerte sich wie ein Brunnen im Hochsommer – und niemand merkte, wie sehr er ihn brauchte, bis das Wasser fehlte.

1.2. Der Hinterhalt von Qir-Mazhar

Die letzte sichere Nachricht war ein Siegesbrief: knapp, stolz, mit königlichem Siegel. Danach kam nur Stille.

Was folgte, wurde zur Legende: der Hinterhalt bei Qir-Mazhar, einem Pass zwischen rotem Gestein, wo der Wind wie ein Messer schneidet. Heimkehrer erzählten widersprüchlich, doch die Grundlinien stimmen erschreckend überein: Reiter auf den Höhen, Pfeilhagel, Staub, Chaos – und dann keine geordnete Flucht, sondern Zerfall.

Einige schwören, sie hätten den königlichen Wappenumhang im Sand gesehen. Andere behaupten, die königliche Standarte sei nicht gefallen, sondern absichtlich eingezogen worden, als hätte jemand entschieden, dass der König „nicht mehr sichtbar“ sein dürfe.

Der gefährlichste Satz ist seitdem dieser:

„Man vermutet, er sei tot – doch man weiß es nicht.“

Denn zwischen Vermutung und Wissen wächst Macht.

1.3. Der Heimweg: Wunden, Fieber und verlorene Namen

Als die ersten Überlebenden heimkehrten, brachten sie nicht nur Narben, sondern auch Solmhar-Fieber, eine Krankheit, die in einigen Garnisonen wie Feuer durch Stroh ging. In mancher Baronie starben mehr Männer an der Heimkehr als am Kreuzzug.

Und so erklärt sich, warum plötzlich so viele junge Herren an Burgtischen sitzen:

  • Erbschaften kamen zu früh.
  • Vormundschaften wurden zu mächtig.
  • Familienlinien brachen oder verzweigten sich in Streit.

Ein Reich kann viele Feinde außen ertragen. Aber wenn es innen „jung“ wird, wird es auch unberechenbar.

2. Der Prinz im Käfig und der Regent auf dem Thron

2.1. Der Erbe: König Edrik, der nicht regieren darf

Der rechtmäßige Erbe – Prinz Edrik – ist minderjährig und, wie der Hof es formuliert, „nicht in der Lage, die schwere Bürde der Krone zu tragen“. Was das bedeutet, ist in Wahrheit viel einfacher:

Edrik ist ein Pfand.

Man hält ihn abgeschirmt, man erzieht ihn, man zeigt ihn bei Zeremonien – doch seine Nähe ist kontrolliert, seine Worte sind geführt, seine Briefe werden geprüft. Die Wahrheit ist: Wer Zugriff auf den Prinzen hat, hat Zugriff auf die Legitimität.

Und Legitimität ist in Ærondor derzeit mehr wert als ein Heer.

2.2. Der Regent: Malrec, Bruder des Königs

Der Bruder des Königs, Malrec, regiert als Regent. Offiziell ist er der Vormund, faktisch ist er der Herr.

Er ist kein wilder Usurpator, der Kronen stiehlt, sondern ein Mann, der Regeln so biegt, dass sie wie selbstverständlich zu ihm zeigen. Er versteht etwas, das viele Barone unterschätzen: In Zeiten der Unordnung gewinnt nicht der Tapferste, sondern derjenige, der Institutionen besitzt – Siegel, Kassen, Gerichte, Kanzeln.

Malrec baut seine Macht auf drei Säulen:

a) Ämter als Ware
Posten werden vergeben, Pfründen verkauft, Stadtprivilegien neu geschrieben. Wer zahlt, bekommt Recht. Wer mehr zahlt, bekommt Ausnahmen.

b) Abgaben als Ketten
Neue Steuern werden eingeführt: „Kreuzzugszehnt“, „Wiederaufbaupfennig“, „Reichsschutzabgabe“. Das klingt nach Notwendigkeit – fühlt sich aber an wie Erpressung.

c) Geiseln als Erziehung
Junge Erben werden „zur Hofbildung“ gefordert. Man nennt sie Pagen. Man behandelt sie höfisch. Und doch weiß jeder: Das sind sanfte Fesseln.

Edikt des Regenten, Auszug:
„Zum Wohl der Einheit sollen die Erben der Großen am Hofe die Kunst des Regierens erlernen.“

In den Hallen der Barone wird derselbe Satz anders übersetzt: „Gebt mir eure Kinder, damit ihr still bleibt.“

3. Die Kirche: Wenn die Krone schwankt, wächst der Altar

Der Kreuzzug war kirchlich legitimiert. Der verschwundene König war kirchlich gesegnet. Das macht die Kirche unersetzlich – und gefährlich.

Denn die Kirche ist nicht „eine“ Macht. Sie ist ein Geflecht aus Stiften, Orden, Legaten, Bischofssitzen und Gerichtsbarkeit – und sie spaltet sich, sobald sie spürt, dass die Welt neu geordnet werden kann.

3.1. Die Versöhner (die Stabilitätskirche)

Diese Fraktion stützt den Regenten aus Angst vor Chaos. Sie sagt: „Er ist nicht ideal, aber er ist Ordnung.“
Sie fordert im Gegenzug:

  • mehr kirchliche Gerichtsbarkeit (Ehe, Erbe, Eidbruch),
  • sichere Zehnten,
  • Mitspracherechte bei Regentschaftsentscheidungen.

Ihre Predigt klingt mild – doch ihre Handschrift ist hart: Sie bauen Dauerrechte, die man später kaum zurücknimmt.

3.2. Die Eiferer (die Reinigenden)

Sie sehen in der Krise ein Zeichen göttlichen Zorns. Für sie ist Ærondor nicht politisch schwach, sondern moralisch krank. Sie verlangen:

  • Ketzergerichte,
  • Verbote „unreiner“ Bündnisse,
  • Reinigung von Hof und Adel.

Der Eiferer-Hammer trifft meist zuerst die, die ohnehin unsicher stehen: junge Barone, umstrittene Erben, Städte mit fremden Händlern, Grenzregionen mit gemischtem Brauchtum.

3.3. Die Kreuzzugspartei (die Zweiten Banner)

Sie wollen einen zweiten Kreuzzug – und damit die Mobilisierung von Geld, Männern, Vorräten unter Kirchenbanner. Wer ihnen folgt, bekommt Ablass, Ruhm und Beute. Wer zögert, gilt schnell als lau oder verdächtig.

So wird Frömmigkeit zu einem politischen Lackmustest.

Aus einer Predigt (überliefert): „Wer zweifelt, wenn die Glocke ruft, zweifelt am Himmel.“

4. Städte, Handel und der Kampf um die Wege

Wenn die zentrale Hand schwächer wird, werden die Wege wichtiger. In Ærondor heißt das: Brücken, Furten, Marktstraßen, Flusshäfen, Mautsteine.

Die Krise erzeugt drei städtische Reaktionen:

4.1. Die Kaufmannsbünde

Händler schließen sich zusammen, stellen eigene Wachen, mieten Söldner, sichern Karawanen. Manche Städte reden plötzlich von „neutralen Handelszonen“. Das ist für Barone provokant, weil es eine Behauptung enthält: „Wir brauchen eure Burg nicht, um sicher zu sein.“

4.2. Die Zolldiplomatie

Städte zahlen nicht mehr automatisch an den nächsten Burgherrn, sondern verhandeln: mit dem Regenten, mit der Kirche, mit mehreren Baronen zugleich. Zölle werden zu einem Spiel aus Verträgen, Drohungen und Bestechung.

4.3. Der Schwarzhandel

Wo Steuern steigen, wächst Schmuggel. Wo Grenzen unklar sind, werden sie zur Einladung. Gerade an Flussknotenpunkten und Waldwegen blüht der Handel mit Salz, Öl, Eisen, Waffen – und Informationen.

Und Informationen sind derzeit die härteste Währung.

5. Heimkehrer, Orden und die Männer ohne Platz

Solmhar spuckte Männer aus, die nicht mehr in ihre alten Rollen passen:

  • Veteranen, die nachts schreien,
  • Ritter, die den Hof verachten,
  • Söldner, die nur noch Befehl verstehen.

Hier entstehen neue Kräfte:

5.1. Ritterorden der Heimkehr

Einige sammeln sich in Bruderschaften, die offiziell fromm sind, inoffiziell aber Machtinstrumente: Sie bieten Schutz, Ehre, Gemeinschaft – und eine bewaffnete Hand, die man „für gerechte Zwecke“ leihen kann.

5.2. Freie Kompanien

Andere werden zu Söldnern. In einer Zeit, in der Barone unsicher sind, ist eine „freie Kompanie“ plötzlich attraktiver als eine feudale Gefolgschaft: Sie ist teuer, aber zuverlässig – solange das Geld fließt.

5.3. Banditentum mit Siegeln

Manche werden zu Räubern. Und manche Räuber tragen gute Wappen. Die Krise verwischt die Grenze zwischen „Fehde“ und „Überfall“, zwischen „Notwehr“ und „Raubzug“.

6. Die Baronien: Warum jetzt jeder seine Chance wittert

Die Unruhe der Barone ist kein plötzlicher Charakterfehler. Sie ist eine rationale Antwort auf ein Reich, das seine Schwerkraft verloren hat.

Hier gibt es Funken die bereit sind zu zünden:

6.1. Das Legitimitätsfenster

Solange der König nicht offiziell tot ist, kann Malrec nicht rechtmäßig gekrönt werden.
Solange Edrik nicht regiert, kann niemand seine Autorität nutzen, um Grenzen „endgültig“ festzuschreiben.

Also versuchen die Barone jetzt:

  • alte Streitigkeiten zu „lösen“,
  • Besitzstände auszubauen,
  • neue Mautrechte zu schaffen,
  • Bündnisse zu schließen, bevor der Hof sie kontrolliert.

6.2. Die junge Generation

Junge Barone müssen sich beweisen: durch eine Heirat, ein Turnier, einen Sieg, ein neues Stück Land, eine spektakuläre „Befriedung“ eines Weges.

Und junge Barone sind leichter zu lenken – oder zu brechen.

6.3. Die neue Hofpolitik als Angriff auf Baronialrechte

Malrecs Edikte fühlen sich an wie ein langsamer Raub:

  • mehr Steuern,
  • mehr Einmischung,
  • mehr „königliche“ Beamte,
  • mehr kirchliche Richter.

Die Barone sehen: Wenn sie jetzt nachgeben, geben sie dauerhaft nach.

Aus einem Briefwechsel zweier Burgherren (Fragment): „Heute ist es der Zehnt. Morgen ist es der Sohn. Übermorgen ist es die Burg.“

7. Der Schatten: Unterwelt, „Das Wiesel“, "Gernot der Listige" und die unsichtbaren Hebel

In jeder Krise treten jene hervor, die keine Kronen wollen, sondern Schlüssel. Schmuggler und Informationshändler herrschen nicht über Land – sondern über Wege, Stimmen und Verschwiegenheit.

„Das Wiesel“ und Gernot der Listige, Baron von Tenebrae, sind Männer dieser Zeit:

  • Der eine baut Brücken zwischen Stadt und Burg.
  • Der andere kennt die Takte der Karawanen wie ein Psalm.
  • Der eine beschafft Schriftstücke, die nie geschrieben worden sein sollen.
  • Der andere setzt Gerüchte in die Welt, bis sie als Wahrheit zurückkehren.

Und vor allem: Sie führen in dieselbe Richtung – nach Solmhar.
Denn ob der König fiel, gefangen wurde oder verkauft: Die Antwort liegt selten im Thronsaal, sondern fast immer im Hinterzimmer.

8. Chronologie der Krise

Woche 0: Der Kreuzzug verstummt. Letzter Siegesbrief.
Woche 4–8: Erste Heimkehrer. Gerüchte, Fieber, Versprengte.
Monat 3: Der Regent übernimmt „vorübergehend“ alle Siegel.
Monat 4: Neue Reichsabgaben. „Schutz der Einheit“.
Monat 6: Forderung nach Erben am Hof. Erste „Ehrenpagen“.
Monat 8: Kirchliche Synode: Streit der Fraktionen wird sichtbar.
Monat 10: Zollkonflikte eskalieren. Söldner tauchen auf.
Monat 12: Ein Hoftag wird angekündigt – Malrec will die Krise gesetzlich zementieren.

9. Der Hoftag als Zündfunke

Malrec ruft einen Reichstag ein. Offiziell zur Einheit, tatsächlich zur Verfestigung seiner Regentschaft.

Er will drei Akte durchsetzen:

  1. Reichsvormundschaftsgesetz
    Alle jungen Erben werden verpflichtend an den Hof geholt.
  2. Zoll- und Knotenpunktreform
    Brücken, Furten, zentrale Handelswege werden zu „Reichseinnahmen“.
  3. Konkordie mit der Kirche
    Erweiterte kirchliche Gerichtsbarkeit gegen kirchliche Anerkennung seiner Vormundschaft.

Für viele Barone ist das der Moment, in dem aus Unruhe Opposition wird.

10. Machtblöcke im Überblick

MachtblockWas sie wollenWomit sie es tunWoran sie scheitern könnenTypische Agenten/TruppenPlot
Regent Malrec & HofparteiRegentschaft dauerhaft machen, Barone schwächen, Kassen füllenÄmterverkauf, Steuern, Geiseln „zur Bildung“, HofgerichteSkandal (Korruption), Prinz entgleitet, militärische Niederlage, kirchlicher BruchKanzleischreiber, Hofritter, königliche Büttel, bezahlte Söldner„Euer Erbe soll an den Hof.“ / „Zollrecht wird entzogen.“
Altkönigliche TreueparteiRückkehr/Wahrheit des Königs, Schutz des Prinzen, Wahrung alter Rechtegeheime Bündnisse, Beweissuche, SchutznetzwerkeZersplitterung, fehlendes Geld/Heer, Verrat in den eigenen Reihenalte Bannerleute, Ritterfamilien, Späher, Boten„Bringt das Siegel aus Solmhar.“ / „Rettet einen Heimkehrer.“
Kirche – VersöhnerOrdnung sichern, Rechte ausbauenSynoden, Konkordien, Richter, ZehntVerlust moralischer Autorität, Vorwurf der KäuflichkeitKleriker, Notare, Kirchenwachen„Ehe/Erbe wird kirchlich entschieden.“
Kirche – Eiferer„Reinigung“, Disziplin, Einfluss durch AngstKetzerprozesse, PredigtkampagnenWiderstand der Städte/Barone, ÜbergriffsskandalInquisitoren, Flagellanten, fanatische Milizen„Ein Baron wird der Ketzerei bezichtigt.“
Kirche – Kreuzzugsparteizweiten Kreuzzug, Mobilisierung unter KirchenbannerAblass, Ruhmversprechen, RekrutierungKriegsmüdigkeit, Misserfolg in Solmhar, GeldmangelOrdensritter, Kreuzfahrer, Prediger„Ein neuer Kreuzzugszehnt wird gefordert.“
Städte & Kaufmannsbündesichere Wege, stabile Zölle, AutonomieGeld, Verträge, Söldner, BlockadenÜberdehnung, innerstädtische Unruhen, AdelsschlägeStadtsöldner, Gildenwachen„Eine Stadt verweigert den Zoll.“
Ritterorden & HeimkehrerSinn, Ehre, Beute oder RacheGewalt, Schutzdienste, „heilige“ MandateDisziplinverlust, Fraktionskampf, RufschadenOrdensritter, freie Kompanien„Ein Orden bietet Schutz – gegen Preis.“
Unterwelt (u.a. Das Wiesel)Profit, Informationen, Hebel über alle SeitenSchmuggel, Erpressung, Dokumente, Gerüchtezu viel Aufmerksamkeit, Rache, kirchliche JagdSpione, Hehler, Wegelagerer„Ein Dokument aus Solmhar taucht auf.“


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