Nächtliche Geräusche

Götzenbild

Ebram starrte in die Dunkelheit und wagte nicht, auch nur ein Geräusch zu machen. Sein Herz raste, Schweiß stand auf seiner Stirn, und seine Nachtkleidung klebte an ihm wie eine zweite Haut. Gleichzeitig fröstelte ihm, da die kalte Nachtluft durch das Zelt strich – oder war es der Geist von Bernard, der ihn heimsuchte?
  Mit zitternden Fingern zog Ebram die Decke bis zu den Augen hoch und gab ein ersticktes Geräusch von sich. Er versuchte, den Traum zu verdrängen, und nach ein paar Minuten verblasste er auch. Langsam beruhigte er sich wieder, als er einen Schrei hörte, ähnlich dem seinen. Aufmerksam geworden lauschte er in die Nacht. Nun hörte er noch mehr Schreie aus den anderen Zelten, von Angst erfüllt, einige sogar voller Schmerz. Erneut erstarrte er in seiner Hängematte und wagte es nicht, nachzusehen, was dort geschah. Er versuchte, sich selbst davon zu überzeugen, dass dies ein weiterer Traum war. Aber er wachte nicht auf, und immer wieder durchdrang ein gequälter Aufschrei die Nacht.
  Plötzlich hörte er etwas in der Nähe. Er war sich nicht sicher, von wo genau es kam, aber es war noch draußen, nicht hier im Zelt. Unendlich langsam drehte er seinen Kopf, um lauschen zu können. Den Geräuschen nach zu urteilen glaubte er, dass irgendjemand stöhnend und wimmernd auf dem Boden kroch – nah genug am Zelt, dass man das leise Schluchzen und Schniefen hören konnte, weit genug weg, um nur bei äußerster Konzentration wahrgenommen zu werden. Dann tauchte wie aus dem Nichts eine Gestalt auf. Der Schatten wurde auf die Zeltwand geworfen. Die Gestalt wirkte menschlich und doch irgendwie grotesk – vielleicht, weil sie so seltsam lief und sich weit vornüber beugte. Ein lockendes, falsch klingendes, leises Rufen in einer fremden Sprache erklang von diesem Ding, so als wolle man eine Katze locken, um sie dann mit einem Kescher einzufangen.
  Das Schluchzen hatte aufgehört, eine angespannte Stille lag über der Szene, auch wenn im Hintergrund weiterhin Schreie zu hören waren. Immer wieder hörte Ebram das Locken der fremden Worte, und plötzlich wurde ihm klar, dass er die Decke zurückgeschlagen hatte und dabei war, sich aufzurichten. Diese Stimme – sie klang zwar falsch, aber das Versprechen darin war verheißungsvoll. Schon hatte er ein Bein aus der Hängematte stellen wollen, als das Schniefen wieder zu hören war und ein leises Rascheln. Der Schatten hörte sofort auf mit seinem schmeichelnden Singsang und gab ein triumphierendes, gurgelndes Geräusch von sich, das sich in Richtung des Schluchzens entfernte. Das Schluchzen wurde zu einem Wimmern: „Bitte… nein… bitte… Gnade!“ Der Schatten bewegte sich schneller zu dem Wimmern hin, war nicht mehr zu sehen, aber zu hören.
  Zuerst konnte Ebram das Geräusch zwischen den gellenden Schmerzensschreien nicht zuordnen, bis ein besonders lautes Krachen in ihm das Bild eines brechenden Knochens vor Augen schob. Ebram zog die Decke über den Kopf, legte die Hände auf die Ohren und biss sich auf die Lippen, um selbst still zu bleiben. Er versuchte auszublenden, was dennoch an Geräuschen durch Decke und Hände drang, und betete in Gedanken darum, endlich aufzuwachen. Nach einer gefühlten Ewigkeit verebbten die Schreie, ein Geräusch als würde ein Sack über den Boden geschleift entfernte sich und schließlich wurde es still – sehr still - es war, als hielte die Welt die Luft an – ebenso wie Ebram. Aber irgendwann musste er wieder Luft holen, und so atmete er ganz bewusst sehr langsam und sehr leise aus und wieder ein. Die Augen geschlossen, die Hände mittlerweile wieder von den Ohren genommen, lauschte er, ob sich irgendetwas in seiner Nähe regte.  
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  Langsam kroch die Zeit dahin, doch kein Laut ertönte. Dann, so als wäre nichts geschehen in der letzten Nacht, setzte das morgendliche Vogelzwitschern ein – nur vereinzelt zwar, da dieser Wald nur wenig Vögel beherbergte, aber hörbar. So normal das Zwitschern klang, so fröhlich und enthusiastisch, in Ebram erzeugte es ein kurzes Aufflackern von Wahnsinn, denn er kicherte leise. Seine Schultern zuckten rhythmisch mit dem Kichern, und die Bewegung erfasste auch seinen Bauch, wurde gewaltiger und brach sich schließlich seine Bahn in einem hysterischen Lachen. Es war nicht sehr laut, es war eher ein haltloses In-sich-hineinlachen. Er musste sich sogar die Tränen aus den Augen wischen und schniefte leise. Er sah auf den von den Tränen feuchten Handrücken, wurde kurz ernst und prustete dann erneut los – bis der Anfall nach ein paar Minuten endlich endete.
  Erschöpft fuhr sich Ebram einmal durch das Gesicht und schloss für einen Moment die Augen, dann sammelte er sich und trat in den vorderen Raum seines Zeltes. Dort sah alles aus wie bisher. Er sah sich aufmerksam um, bemerkte aber keine Veränderung. Dies ließ ihn immer mehr zu der Überzeugung kommen, dass er nur geträumt hatte. Er zog sich pfeifend und gut gelaunt Hose, Hemd und Schuhe an, band ordentlich seine Krawatte und zog seine Weste über das Hemd. Sorgfältig überprüfte er, ob alles richtig saß, dann schlug er den Zelteingang zurück und trat voller Elan nach draußen.
 
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Ebram erstarrte. Mitten im Lager war eine Säule aus Stein errichtet worden. Sie zeigte ein grausam verzerrtes Gesicht, das Ebram voller Gier entgegenstarrte. Um dieses Götzenbild herum lagen Menschen – seltsam deformiert und nach einem unbekannten Muster ausgerichtet. Es waren vielleicht ein Dutzend Männer, die dort leblos und mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen ins Leere blickten.
  Keuchend und rückwärts taumelnd fiel Ebram gegen seine Zeltwand und sackte zu Boden. Der Mund stand ihm sprachlos offen, und sein Gesicht drückte Fassungslosigkeit und Furcht aus. Aber er konnte den Blick nicht von der Szene wenden – und da war er nicht allein.
  Diejenigen, die überlebt hatten und nun ebenfalls aus den Zelten traten – einige erleichtert wie Ebram zu Beginn, andere schon vorsichtig und furchtsam – konnten ebenfalls den Blick nicht wenden. Ein paar Leute übergaben sich, andere fingen an zu beten, manche erstarrten, ein oder zwei verloren jegliche Fassung.

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