Geteilte Lager

Kammer der Verlassenen

Am Tag nach der Beerdigung der Opfer lag über dem Lager Stille. Es war, als müsste jeder für sich schweigend nachdenken. Nur wenige trafen sich, um über das Erlebte zu sprechen. Die Stille hing über den Zelten wie eine unsichtbare Glocke – und niemand wagte es, sie zu heben und den Bann zu brechen. Selbst im Kantinenzelt wurde kaum gesprochen.   Ebram hatte sich sein Frühstück selbst geholt, da keiner seiner Assistenten Anstalten machte, an ihn zu denken oder ihm etwas mitzubringen. Nachdem er seinen Teller ausreichend gefüllt hatte und sich umdrehte, hatte er das Gefühl, dass ausnahmslos alle ihn anstarrten. Das war zwar nicht der Fall, aber es waren nicht wenige Augen, die ihm folgten, als er das Zelt wieder verließ. Draußen durchfuhr ihn ein Zittern, gefolgt von einer Welle der Erleichterung. Zügig kehrte er in sein Zelt zurück und beschloss, einem Assistenten die wichtige Aufgabe seiner Nahrungsversorgung zu übertragen. Keine zehn Pferde würden ihn noch einmal zur Essenszeit ins Kantinenzelt bewegen.   Den ganzen Tag über blieb es still. Keiner der Arbeiter hielt es heute für nötig, seiner Arbeit nachzugehen. Ebram suchte seine Assistenten und forderte sie auf, sich ihm anzuschließen und die Suche in der Umgebung fortzusetzen – doch keiner wollte ihn begleiten.
  Als er schließlich ausgerüstet mit seiner Sonde am Lagerrand stand, kam er nicht weiter als ein paar Schritte. Nicht, dass dort eine Barriere gewesen wäre – aber vor seinem inneren Auge schob sich das Bild des Mannes, der im Laufen aufgespießt wurde. Plötzlich verweigerten seine Beine den Dienst. Er hatte Angst. Steif lächelnd kniff er die Augen zusammen und ballte eine Hand zur Faust, versuchte sich zu zwingen weiterzugehen – und schaffte auch ein paar Schritte. Doch weit kam er nicht. Sein Herz raste, er hörte das Blut in seinen Ohren im Takt seines Herzschlags pumpen, und seine Hände wurden schwitzig. Er kämpfte innerlich mit sich selbst; auf seinem Gesicht spiegelte sich der Dialog in seinem Kopf. Doch die Furcht gewann. Nach zehn Minuten des inneren Ringens wich er zwei Schritte zurück, drehte sich um und betrat wieder das scheinbar sichere Lager.   Der Zufall wollte es, dass er bei den Baumstämmen stand. Er lehnte sich schwer atmend an einen der Stämme und lockerte mit zitternden Fingern den Kragen seiner Krawatte. Nachdem sein Atem etwas ruhiger geworden war, sah er noch einmal zum Waldrand – und hieb wütend mit der Faust gegen das Holz. Der Schmerz in seinen Knöcheln holte ihn unsanft in die Realität zurück. Er schob die Hand unter die andere Achsel und tänzelte ein wenig herum. Nur kurz. Dann stellte er sich vor, wie lächerlich er gerade aussehen musste – und setzte eine würdevolle Miene auf, während er sich umsah. Niemand schien diese kleine Eskapade gesehen zu haben. Glück gehabt. Hoch erhobenen Hauptes kehrte er in sein Zelt zurück und beschloss, sich dem allgemeinen Nichtstun anzuschließen. Morgen war auch noch ein Tag.  
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  Am nächsten Morgen war wieder Leben im Lager zu hören. Ebram lugte aus seinem Zelt und sah, dass Bernard mit verschiedenen Leuten sprach. In einigen LKWs saßen Arbeiter, bewaffnet mit Äxten und Sägen – die Arbeiten würden also heute fortgesetzt, sodass man vermutlich morgen oder vielleicht sogar schon heute Abend das Lager tiefer in den Wald verlegen konnte. Ein prüfender Blick bestätigte diese Vermutung: Einige Zelte wurden abgebaut, doch zu seiner Überraschung wurden auch zwei Blockhütten errichtet. Verwundert trat er ganz aus seinem Zelt heraus und betrachtete die Handwerker irritiert. Kopfschüttelnd ging er zu Bernard und wartete ungeduldig, bis dieser sein Gespräch beendet hatte.
  „Guten Morgen, Ebram!“ Bernard lächelte warm – und Ebram verschlug es die Sprache. Beim Vornamen angesprochen zu werden war ungewohnt, und diese weiche Herzlichkeit raubte ihm jegliche Fassung. Er sah den Vorarbeiter an und brauchte einen Moment, bis er antworten konnte. Bernards Lächeln wurde breiter; er schien sich dieser Wirkung durchaus bewusst zu sein. Ebram fühlte sich verschlungen, geradezu aufgefressen – aber nicht im negativen Sinne. Er wurde wahrgenommen. Als Mensch. Nicht als Expeditionsleiter. „Ähm… guten Morgen, Bernard“, brachte er schließlich hervor – und stand dann da wie bestellt und nicht abgeholt, da er vollkommen vergessen hatte, was er sagen wollte.
  Ebrams Augen suchten nach dem Anlass seines Kommens in der Umgebung, sein Gehirn ratterte. „Ich … ähm … wollte …“ Sein Blick fiel auf die Baustelle der Blockhütten – und Erleichterung machte sich in ihm breit. „… wollte fragen, wieso hier feste Unterkünfte errichtet werden? Wir hatten doch beschlossen, die Stadt zu finden!“ Bernard trat näher an Ebram heran – nicht nah genug, um aufdringlich zu sein, aber so nahe, dass er nicht laut sprechen musste. „Etwa ein Drittel der Arbeiter möchte hierbleiben, Ebram.“ Der Doktor wollte schon den Mund zu einer heftigen Erwiderung öffnen, doch Bernards Augen und das angedeutete Kopfschütteln sagten ihm deutlich, dass er das besser nicht tun sollte. Verwirrt schloss er den Mund wieder und setzte einen fragenden Blick auf. Bernard schaute sich kurz um – dann deutete er wortlos auf Ebrams Zelt.  
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  Zuerst betrat Ebram sein Zelt mit energischen Schritten, Bernard folgte ihm dichtauf. Kaum waren sie im Inneren, warf Ebram empört die Hände in die Höhe. „Mehr als ein Dutzend Arbeiter wollen streiken? Wir sollten ihnen das Essen…“ Er wirbelte herum, um seinen Worten Gewicht zu verleihen – und stand plötzlich dicht vor Bernard. Diese Nähe war Ebram ungewohnt und unterbrach seinen Wortfluss. Er sah hoch in das Gesicht des Vorarbeiters, der nicht sehr begeistert wirkte, und trat einen Schritt zurück. „Verzeihung, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten“, kam es kratzig aus ihm heraus. Er schluckte krampfhaft – sein Hals war plötzlich trocken.
  Bernard ließ ihm Zeit und beobachtete den Doktor aufmerksam. Als die Stille fast schon belastend wurde und Ebram immer noch nichts herausbekam, sondern sich stattdessen zu einem Glas Wasser flüchtete, seufzte Bernard leise. „Ebram – erstens, wir waren beim Du. Und zweitens: Du kannst niemanden zwingen, mitzukommen. Die Menschen haben Angst und fühlen sich hier sicherer als in einer Stadt, die vielleicht gar nicht existiert.“ „Natürlich existiert die Stadt!“ grätschte Ebram aufbrausend dazwischen. Bernard trat einen forschen Schritt auf ihn zu. Ebram wich erschrocken zurück, hatte aber nicht genügend Platz. Er schob das Glas zwischen sich und Bernard – als wäre es ein Schild. Doch Bernard ignorierte das Glas vollkommen. „Nochmal, Ebram: Du kannst niemanden zwingen. Das führt nur zu Mord und Totschlag. Und außerdem – ist es wirklich so schlecht, wenn wir einen Rückzugsort haben?“ Er beugte sich leicht vor. Ebram krümmte den Rücken nach hinten und drohte, das Gleichgewicht zu verlieren. Dann trat Bernard zurück und nahm sich ebenfalls ein Glas Wasser. „Du musst aufhören, immer gleich das Negative zu sehen.“ Er trank mehrere große Schlucke, während Ebram langsam seine Fassung wiedergewann.
  „Na gut… so betrachtet ist ein befestigter Rückzugsort gar nicht so schlecht. Aber mit weniger Arbeitern kommen wir langsamer voran!“ argumentierte er nachdrücklich. „Stimmt“, sagte Bernard. „Aber wenn hier ein Aufstand losbricht, haben wir gar keine Arbeiter mehr.“ Er stellte das Glas ab.
  Ebram traute sich nicht, sein Glas ebenfalls abzustellen, und blieb in der Zeltecke stehen. Der Vorarbeiter ging zum Zelteingang, wandte sich noch einmal um und lächelte. „Wir ziehen heute Abend um. Die meisten, die uns begleiten, sind gerade dabei, ein neues Lager herzurichten. Also pack alles zusammen und lass das Zelt abbauen.“ Dann war er draußen.
Ebram starrte noch einige Augenblicke auf den Eingang, dann taumelte er zum Tisch, stellte das Wasserglas klirrend ab und rang nach Luft – er hatte unbewusst nur noch sehr flach geatmet.
Was war da eben passiert? Welche Macht übte Bernard plötzlich auf ihn aus? Er ließ sich auf einen der Hocker plumpsen und starrte eine Zeitlang grübelnd ins Leere.  
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  Als Ebram zu keinem für ihn sinnigen Schluss kam – einige Möglichkeiten schloss er im Vorhinein aus – verschob er das Problem und widmete sich der gestellten Aufgabe. Er packte seine Koffer, zitierte mehrere Assistenten zu sich, ließ das Zelt abbauen und seine Sachen sicher in einem LKW verstauen. Danach schlenderte er bis zur Abfahrt durchs Lager und versuchte, „das Positive“ zu sehen – was ihm nur schwer gelang. Aber zumindest schaffte er es, mit aufgesetztem Lächeln den Leuten zu begegnen und sie nicht mit strafendem Blick abzumahnen. Am Küchenzelt packte ihn plötzlich eine Hand am Arm und zerrte ihn in den Küchenbereich. Ebram wollte schon einen Ringergriff anwenden, als er erkannte, wer ihn gepackt hatte – Abby. Sie ließ ihn sofort wieder los und deutete auf einen Stuhl. „Herr Dr. Rolfo, Sie sind heute im Lager so umtriebig wie eine Hure. Bernard hat mich angewiesen, mich um Ihre Platzwunde zu kümmern – das kann ich aber nicht, wenn Sie nicht zu mir kommen!“ Sie klang rechtschaffend empört.
  Widerwillig setzte er sich und gestattete Abby, sich die Naht anzusehen. „Sagen Sie, Abby – woher kommt es, dass Sie und Herr Hollwart sich so gut verstehen?“ fragte er förmlich. Die junge Dame kicherte leise. „Nun, Herr Hollwart und ich kennen uns schon etwas länger.“ Ebram verzog das Gesicht, als ein kurzer Schmerz über seine Kopfhaut zuckte, während sie vorsichtig entlang der Wunde tastete. „Kommen Sie aus der gleichen Gegend?“ Abbys Gesicht tauchte unvermittelt vor seinem auf. „Herr Doktor – wieso interessiert Sie das?“ Er zuckte zurück. „Einfach… so?“ Das Gesicht verschwand wieder aus seinem Blickfeld. „Nein. Wir kennen uns aus einer Bar. Mein Vater hatte Bernard eingestellt, und zum Abschluss eines Projekts sind wir alle einen trinken gegangen.“ Ebram verdrehte die Augen, antwortete aber auf diese für ihn so dreiste Lüge mit einem Lächeln. „Eine sehr interessante Geschichte, Fräulein Abby. Wirklich sehr interessant.“
  Nachdem Abby ihm noch kleine Pflaster über die Naht geklebt hatte, entließ sie ihn wieder in die Freiheit – mit der Mahnung, dass er morgen zur Nachkontrolle erscheinen solle. Ebram bejahte höflich und ging schnellen Schrittes aus dem Küchenbereich. Mit diesem Gebäude verbanden ihn zu viele negative Gefühle. Die restliche Zeit bis zum Aufbruch verbrachte er am Rand des Lagers und beobachtete das Treiben, wobei er einen sehr gewichtigen Gesichtsausdruck aufsetzte. Die Stunden verstrichen langsam, aber für Ebram durchaus unterhaltsam. Er verglich die Betriebsamkeit mit Ameisen, die geschäftig hin und her eilten. Ein Auto fuhr direkt auf ihn zu und stoppte wenige Meter vor ihm – Bernards Geländewagen. Eben jener saß am Steuer. „Möchtest du mit mir fahren, Ebram?“ fragte er, wobei er sich seitlich aus dem Fenster lehnte. Auf der Fahrt zum neuen Lager unterhielten sich die beiden nur wenig. Ebram juckte es zwar in den Fingern, Bernard nach Abby zu fragen – aber er beherrschte sich. Zudem ärgerte es ihn, dass er das Thema nicht loslassen konnte. So schaute er die meiste Zeit aus dem Fenster – und sah weder die Bäume noch etwas anderes.  
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  Ebrams Zelt war im neuen Lager bereits aufgebaut – was ihn sichtlich erfreute. Bei den vorherigen Malen war sein Zelt immer als eines der letzten errichtet worden, und das auch nur, weil er seine Assistenten explizit dazu anweisen musste. Der Geländewagen hielt direkt vor seinem Zelteingang. Ebram stieg aus und warf noch einen kurzen Blick ins Auto. „Danke fürs Mitnehmen – die Fahrt war deutlich angenehmer als im LKW.“ Bernard beugte sich über den Beifahrersitz und antwortete mit einem Schmunzeln: „Gerne. Wobei ich doch hoffe, dass du beim nächsten Mal gesprächiger bist!“ Ebram zuckte zurück. Diese Vertrautheit war ihm fast schon zu viel – er verzog ärgerlich das Gesicht. Bernard registrierte es augenblicklich. „Aber natürlich kannst du auch gerne schweigen, wenn dir das lieber ist.“ Er startete den Motor, bereit weiterzufahren.
  Automatisch trat Ebram zurück, und der Wagen entfernte sich. Er sah ihm hinterher – und bereute etwas. Etwas, das er nicht benennen konnte. Als er sein Zelt betrat, sah er, dass alles bereits eingerichtet war – sogar seine Koffer und die Hängematte im angrenzenden Raum. Morgen, so beschloss er, würde er den verantwortlichen Assistenten dafür loben. Er machte sich fertig für die Nacht, nahm sein Notizbuch aus dem verschließbaren Schrankkoffer – und legte es dann doch zurück. Er hatte keine Lust zu schreiben, keine Kraft, sich dem Erlebten zu stellen. Stattdessen griff er zu einem Buch über die Grundlagen der Archäologie von Prof. Dr. Philipp Martin, legte sich in die Hängematte und begann zu lesen.
  Er war eingeschlafen – und erwachte vom Geräusch eines leisen Stöhnens. Verwirrt drehte er sich zur Seite, nur um festzustellen, dass er wohl wieder aus der Hängematte gefallen war. Der Boden fühlte sich fest und kalt an. Das ließ ihn augenblicklich hellwach werden. Er sah sich um – doch er war nicht mehr in seinem Zelt. Er war irgendwo in der Dunkelheit. Seine Finger tasteten vorsichtig über den Boden: Steinfliesen. Einige davon waren zerbrochen. Die Platten waren groß – mindestens sechzig Zentimeter lang und breit.
  Wieder das leise Stöhnen – irgendwoher. Er legte den Kopf schief, versuchte die Richtung zu bestimmen. Nach einigen Momenten der Stille ertönte der Laut erneut – sein Kopf ruckte herum. Er sah nichts. Also blieb er auf dem Boden und krabbelte vorsichtig in die Richtung. Nach ein paar Minuten ertastete er einen Arbeiterstiefel – leer. Er schob ihn beiseite und setzte seinen Weg fort. Dann endlich: etwas Neues. Etwas warmfeuchtes, klebriges. Als er es berührte, ertönte das schmerzhafte Stöhnen erneut. Erschrocken zuckte er zurück und kroch mehrere Meter furchtsam zurück.
  „Hallo?“ fragte er vorsichtig. „Wer sind Sie?“
Ein Wimmern. Dann ein leises, schwerfällig ausgesprochenes Wort – von einer vertrauten Stimme: „Ebram?“
„Bernard?“ Er tastete sich wieder vor, bis er den klebrigen Gegenstand erneut berührte – Bernard stöhnte vor Qual.
„Bernard – was ist passiert?“ Er tastete weiter, meinte Fußzehen zu erfühlen – aber die Haut war glitschig und klebrig zugleich.
„Du… hast… mich… zurückgelassen…“ keuchte Bernard.
Ebram fuhr aus dem Schlaf hoch – mit einem entsetzten Aufschrei.
by Microsoft Copilot

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