Ein unbedeutender Fund
Der Weg ins Verderben
Fast eine Woche war vergangen, seitdem der Traum das Camp heimgesucht hatte. Viele hatten einen mehr oder weniger identischen Traum gehabt, einige erlebten abgewandelte Varianten, und eine Handvoll hatte überhaupt nicht geträumt. Danach gab es allerdings keine seltsamen Träume mehr. Natürlich hatte es viele Spekulationen und Mutmaßungen gegeben, aber letztendlich war man überzeugt, dass es vermutlich auf eine Geschichte zurückging, die jeder irgendwann einmal gehört hatte und die – in Verbindung mit der düsteren Kulisse des nächtlichen Waldes – die Fantasie aller beflügelt hatte.
Es war ungewöhnlich, dass so viele einen ähnlichen Traum gehabt hatten, aber da keine weiteren folgten, wurde zwar weiterhin darüber gesprochen, jedoch keine tiefere Bedeutung beigemessen. Der Arbeitsbeginn verzögerte sich nur um ein paar Stunden, dann hörte man den regelmäßigen Klang von Stahl, der auf Holz schlägt, und das gleichmäßige Ratschen der großen Holzsägen, die man zu zweit bediente. Dazu zwischendurch immer wieder der warnende Ruf: „Achtung! Baum fällt!“
Die Schneise im Wald wirkte wie eine Wunde. Entastete Baumstämme lagen an den Seiten, dort, wo einst die Wurzeln der Bäume gewesen waren, taten sich nun Gruben auf. Die Wurzeln der Tannen reichten zu tief in den Boden, um vollständig entfernt zu werden – sie wurden lediglich gekappt. Bei den Fichten konnte man sie ganz herausreißen. Nach drei Tagen wurden die Löcher mit Erde gefüllt, und der Weg war bereitet für die Versetzung des Camps. Man hatte die Schneise einen Kilometer in den Wald getrieben und dann noch ein paar Bäume für eine neue Lichtung gefällt, damit das Camp dort aufgebaut werden konnte. Weitere drei Tage später konnte man erneut etwa einen Kilometer weiter vorstoßen.
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Ebram war mit seinen Assistenten und Trägern in der näheren Umgebung des zweiten Lagerplatzes unterwegs, um nach Hinweisen zur Stadt zu suchen. Er hatte einen Stock dabei, wie ihn Bergretter nutzen, um verschüttete Personen zu finden. Bisher hatte er noch nichts entdecken können, aber damit hatte er so nahe am Waldrand auch nicht gerechnet. Seine Träger spazierten leise plaudernd in einigem Abstand mit, während seine Assistenten ebenfalls mit den Sonden den Boden absuchten.
Ebram hatte das Gebiet in Raster aufgeteilt und wollte systematisch die Umgebung des Lagers untersuchen lassen. Es diente der Übung seiner Assistenten, auch wenn diese davon ausgingen, dass man schon hier fündig werden könnte. Später, wenn man im richtigen Gebiet wäre, sollten nur noch die Assistenten den Boden sondieren; er selbst würde dann nur die Fundstücke bewerten, katalogisieren und inventarisieren sowie fachgerecht verpacken. Besondere Fundstücke würde er natürlich genauer untersuchen – schon an Ort und Stelle.
Umso verwunderter war er, als einer seiner Assistenten plötzlich nach ihm rief: „Dr. Rolfo? Ich glaube, ich habe etwas gefunden!“ Die Stimme klang unsicher und zögerlich. Ebram setzte ein Lächeln auf und ging zu dem jungen Mann. Zuerst wollte ihm der Name nicht einfallen, doch dann besann er sich. „Herr Matthei, was haben Sie denn gefunden?“ Der Angesprochene verzog das Gesicht zu einer Grimasse und deutete mit der Sonde ein Stück rechts von sich auf den Waldboden. Ebram ging an ihm vorbei und stutzte – ein Knochen. Ein Menschenknochen.
Mit erwachter Neugier ging er in die Hocke und betrachtete den auffälligen weißen Knochen, der aus dem dunklen Erdreich herausragte. „Herr Matthei? Sagen Sie den Trägern, sie sollen Schaufeln holen und eine Kiste. Ich vermute, zu diesem Knochen gehört ein ganzes Skelett.“ „Dok… tor… ist das… ein Menschen…knochen?“, kam die stotternde Antwort. Ebram wandte den Kopf über die Schulter und sah in das bleichweiße Gesicht des Assistenten. „Ja, definitiv. Ich würde sagen, es ist das Wadenbein.“ Er wandte sich wieder dem Knochen zu, grub mit der einen Hand und zog ihn mit der anderen langsam aus der Erde. „Er liegt hier schon ein paar Jahrzehnte, würde ich sagen.“
Hinter ihm erklang das Geräusch eines zuerst würgenden und schließlich auch erbrechenden jungen Mannes.
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Die zwei Kisten standen auf den beiden Hockern in seinem Zelt. In der einen Kiste waren die bisher gefundenen Knochen gelagert, in der anderen persönliche Gegenstände des Verstorbenen. Ebram war sich sicher, dass es ein Mann gewesen war. Nachdenklich nahm er mehrere Knochen aus der Kiste und betrachtete sie eingehend. Es gab keinerlei Hinweise auf die Todesursache – nicht, dass er ein Experte in solchen Dingen war, aber Gewalteinwirkung konnte man häufig auch an Knochen erkennen. Diese hier jedoch hatten keinerlei Spuren von Stich-, Schlag- oder Bisswunden. Ganz in Gedanken und der Betrachtung versunken, überhörte er zuerst das Räuspern, bis es in ein demonstratives Husten überging. Ebram wandte sich zum Zelteingang, bereit, denjenigen, der ihn aus seinen Gedanken riss, zurechtzuweisen. Herr Hollwart stand am Zelteingang.
„Hallo Dr. Rolfo, verzeihen Sie die Störung, aber ich hörte, Sie haben eine Leiche entdeckt?“ Sein Ton war ruhig und sachlich. Ebram brauchte einen Moment, um seine zuvor kurz aufgeflammte Wut abzuschütteln und dann seinem Gegenüber zuzulächeln. Er mochte Hollwart – er war praktisch und pragmatisch veranlagt. „Oh, nein… Obwohl, genau genommen ist es ein Skelett. Der Unglückliche hat sich vermutlich verirrt und ist wahrscheinlich verhungert“, klärte er ihn auf. Hollwart deutete auf das Zeltinnere. „Darf ich eintreten und das Skelett sehen? Was macht Sie so sicher, dass er verhungert ist?“ Ebram trat zur Seite und ließ ihn eintreten. „Da keine Spuren von Gewalteinwirkung an den Knochen zu finden sind, wäre das die naheliegendste Vermutung.“
Beide traten an die Kiste mit den Knochen heran. Der Vorarbeiter beugte sich über die Knochen, ohne sie anzufassen, und begutachtete sie. „Hmm, ja. Seltsam ist allerdings, dass sie keine Spuren von Wildtieren zeigen. Kein Wildtier hat daran genagt oder geknabbert.“ Ebram nahm einen der Knochen, drehte ihn um die eigene Achse und runzelte die Stirn. „Sie haben vollkommen recht. Ich stimme Ihnen zu, das ist seltsam.“ Er nahm noch andere Knochen und untersuchte sie nach Spuren von Wildtieren – vergeblich. Nachdenklich kratzte er sich am Hinterkopf. „Nun, dafür gibt es sicherlich eine Erklärung. Abgesehen davon, dass ich hier kaum Wildtiere gesehen habe.“ Nickend bestätigte Hollwart die Aussage. „Ja, viele habe ich auch nicht gesehen, aber das ist kein Wunder bei dem Lärm, den wir veranstalten.“ Er deutete auf das Skelett. „Verpacken Sie es und stellen Sie es raus. Ich werde es zurück in die Stadt bringen lassen. Morgen sollten eh drei LKWs neue Vorräte holen.“
Etwas enttäuscht sah Ebram das Skelett an und seufzte. „Natürlich, Sie haben recht. Vielleicht kann man anhand der verbliebenen Ausrüstungsteile nachvollziehen, wer diese Person gewesen war. Vielleicht gibt es noch Verwandte. Ich werde die Ausrüstung mit in die Knochenkiste legen. Bitte besorgen Sie mir eine Ersatzkiste dafür, ja?“
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Ebram sah den LKWs hinterher, die sich in Richtung Waldrand bewegten. Auf einer der Ladeflächen lag die Kiste mit den Knochen und der Ausrüstung des Verstorbenen. Er hatte noch ein paar zusätzliche Wünsche auf einer Liste mitgegeben und hoffte, dass die Wagen am nächsten Tag das Gewünschte mitbringen würden. Bis dahin musste er sich gedulden. Beim Frühstück stellte er fest, dass Assistent Matthei nicht anwesend war, und als er nachfragte, wurde ihm mitgeteilt, dass dieser mit den LKWs in die Stadt gefahren sei. Ebram verdrehte die Augen und dachte sich, dass der junge Mann vermutlich nicht wiederkommen würde – zu sensibel.
Der Vormittag und Mittag vergingen ohne weitere Funde. Am späten Nachmittag jedoch hörte man das Näherkommen mehrerer Autos. Aufmerksam geworden hoben alle, die Ebram begleiteten, den Kopf und lauschten. Auch er selbst versuchte zu hören, was dort vor sich ging. Die entsandten LKWs sollten erst am nächsten Tag zurückkehren. Er sah in die Runde: „Weiß jemand von den Herren, ob wir Besuch erwarten?“ Allgemeines Kopfschütteln war die Antwort. „Nun gut, sehen wir nach, was los ist!“, forderte er alle auf und ging selbst vorneweg.
Als er im Lager ankam, sah er die drei LKWs vom Morgen – allerdings sahen sie ramponiert aus, geradezu schäbig. Verwundert näherte er sich den Fahrzeugen, um die sich fast das ganze Camp versammelt hatte. Mit Ellenbogeneinsatz schob sich Ebram ins Zentrum des Geschehens und sah erstaunt auf vier völlig verängstigte Personen herab: die drei Fahrer und sein Assistent Matthei. Sie alle hatten weit aufgerissene Augen und starrten auf etwas, das offenbar nur sie wahrnahmen. Kein anständiger Satz, nur Gemurmel oder Gesumme kam von ihren Lippen.
Hollwart hatte sich in die Hocke begeben und versuchte, den einen oder anderen zur Besinnung zu bringen – durch Ansprechen, Rütteln und sogar eine Ohrfeige. Nichts half. Ebram stellte sich neben ihn. „Was ist hier passiert?“ Der Vorarbeiter sah zu ihm hoch. „Ich habe keine Ahnung. Die Wagen kamen mit überhöhter Geschwindigkeit ins Lager gefahren, dann bremsten sie abrupt, und die vier hier sind geradezu aus den Fahrerkabinen gesprungen und haben sich hier zusammengekauert.“ Er deutete auf das Lagerfeuer daneben. „Mehr weiß ich auch nicht! Keiner der Vier sagt auch nur ein verständliches Wort.“
Die Hand unter Mattheis Kinn gelegt, zwang Ebram den Assistenten, ihn anzusehen. Widerstandslos folgte der Kopf der Bewegung, und die vor Angst geweiteten Augen starrten durch Ebram hindurch. „Was auch immer geschehen ist – es muss furchterregend gewesen sein. Wir können sie nicht hier lassen, sie müssen in ärztliche Behandlung.“ Hollwart richtete sich auf und nickte zustimmend. „Ja, das sehe ich auch so.“ Er deutete auf zwei Arbeiter, die ebenfalls einen Wagen fahren konnten. „Thomasch, Ivon – nehmt einen der anderen Wagen und bringt die vier in die Stadt, ins Krankenhaus. Am besten einen geschlossenen Wagen.“
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Eine halbe Stunde später waren Thomasch und Ivon zusammen mit den vier Betroffenen aufgebrochen. Ebram und Hollwart sahen sich derweil die zurückgekehrten Wagen an. Der Vorarbeiter strich mit der Hand über verschiedene Dellen im Blech der Seitenflügel. „Als wären sie attackiert worden oder andauernd gegen Hindernisse gefahren.“ Er nahm einen Holzsplitter und mehrere Krümel in die Hand, die aus einer Delle stammten. „Holz und Baumrinde, ein paar Tannennadeln – sehr seltsam.“
Ebram sah auf die Hand herab. „Eine Erklärung dafür?“ Er deutete auf die Späne. „Nein, keine, die Sinn ergibt. Vielleicht sind sie vom Weg abgekommen und haben versucht, zwischen den Bäumen durchzukommen?“, antwortete Hollwart. Einer Eingebung folgend ging der Geschichtsprofessor zur Laderampe des LKWs, der das Skelett transportiert hatte, und hob die Plane hoch. „Hollwart? Waren die Wagen in der Stadt gewesen? Wurden sie entladen?“ Der Angesprochene trat zu dem Doktor und schüttelte den Kopf. „Nein, warum?“ Ebram deutete auf die leere Ladefläche, auf der eigentlich die Kiste stehen müsste.


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