Ein Traum

Unbehagen

Das erste Camp wurde am Rand des Waldes aufgeschlagen. Der Waldrand wirkte wie mit dem Messer abgeschnitten. Es gab keine kleinen jungen Bäume oder Triebe, nur diese mächtigen, hoch hinaufragenden Tannen und Fichten. Steif wie Soldaten standen sie da; selbst der Wind schien ihre Äste kaum bewegen zu können. Wenn man seinen Blick zwischen die Stämme lenkte, entdeckte man keine Veränderung. Baumstamm reiht sich an Baumstamm – zwar nicht mit dem Lineal gezogen, aber wirkliche Unterbrechungen durch Gebüsch oder andere Bäume gab es nicht. Zudem wurde die Sichtweite durch die immer dichter werdende Dunkelheit im Inneren des Waldes stark eingegrenzt.   Dr. Ebram Rolfo, der Leiter der Expedition, stand mit in die Hüften gestemmten Händen, breitbeinig in seinem dunklen Anzug vor der Baumwand und legte den Kopf in den Nacken. Sein Blick war kritisch und abschätzend, so als mustere er einen Feind. Während er so dort stand, näherte sich ihm ein Mann mit dem kräftigen Körperbau eines Arbeiters, der sein Glück gemacht hatte und nun eine Wohlstandswampe trug. Das Gesicht, auch schon leicht in die Breite gegangen, mit einem buschigen Backenbart verziert und einer dampfenden Pfeife im Mund, zeigte ein Schmunzeln ob des kritischen Blickes des schlanken Doktors der Geschichte.   „Ah, Dr. Rolfo! Hier sind Sie! Man sagte mir, dass Sie vor kurzem angekommen sind, und ich dachte, ich wäre derjenige, der Sie als Erster begrüßen darf – nicht der Wald!“ dröhnte es von dem etwas Beleibteren zum schlanken Mann. Der Angesprochene wandte sich um und nahm den Zylinder vom Kopf mit einer leichten Verbeugung. „Hocherfreut, Herr Balei. Ich dachte nicht, dass Sie selbst an der Expedition teilnehmen möchten.“   Tergun Balei nahm ebenfalls seine Kopfbedeckung ab – eine neumodische Melone, passend gefärbt zu seinem hellbraunen Anzug – und reichte dem Doktor die Hand. „Ach wo, natürlich gehe ich nicht mit – viel zu anstrengend!“ Er lachte. „Aber ich wollte mich versichern, dass alles an Material und Arbeitern vorhanden ist, damit die Expedition einen guten Start hat.“   Ebram nahm die feiste Hand des Eisenbahnmoguls in seine recht zartgliedrigen und drückte sie angemessen. „Ah, ich verstehe. Nun, ich hoffe, dass alles Benötigte vorhanden ist?“   „Absolut! Ich bin mit Herrn Hollwart, meinem Stellvertreter für diese Expedition und Verantwortlichen für die Ausrüstung etc., alles noch einmal durchgegangen. Es ist alles da!“   „Wunderbar! Ich hatte im Vorfeld mit Herrn Hollwart gesprochen, und wir haben einige kleine Änderungen bezüglich der Ausrüstung und Verpflegung vorgenommen. Ich hoffe, das war in Ordnung?“   „Jaja, alles gut! Ich will ja, dass diese Expedition gelingt – also sollte ich nicht knauserig sein.“ Tergun lachte schuckelnd auf, sodass seine Wampe leicht wackelte. „Kommen Sie, Doktor, lassen Sie uns, bevor Sie morgen aufbrechen, noch gemeinsam essen und trinken. Ich habe einen sehr guten Wein mitgebracht…“  
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  Das Camp bestand aus mehreren großen Zelten, in denen Arbeiter nächtigten sowie Werkzeuge und Vorräte gelagert wurden. Dr. Rolfo hatte ein eigenes Zelt, das er nicht teilen musste. Es war dafür gedacht, bei längerem Aufenthalt eine angenehme Wohnsituation zu gestalten. Man konnte es nicht allein aufbauen, sondern benötigte mindestens drei Personen, die dabei halfen. Der Innenraum war zweigeteilt: ein vorderer Bereich mit Tisch und Hockern sowie einigen kleinen Möbeln und Kisten; der hintere Bereich war kleiner und bestand aus einer gepolsterten Hängematte und zwei Schrankkoffern mit den persönlichen Habseligkeiten von Dr. Rolfo. Der eine Koffer war besonders schwer, da darin Bücher und Schreibmaterial transportiert wurden.   Für den Transport wurden 14 speziell für den Eisenbahnbau konzipierte Lastwagen benutzt, die eher schmal waren und hohe Räder hatten – perfekt geeignet, um in den Wald vorzudringen, ohne eine extrem breite Schneise schlagen zu müssen. Die meisten waren hinten offen, wurden aber mit Planen abgedeckt, um das Transportgut zu sichern. Insgesamt wurden 50 Arbeiter angestellt: 40 für den Transport und die Rodung, die restlichen zehn standen Dr. Rolfo zur Verfügung – als Koch, Lastenträger, Wäscher und Assistenten.   Das Lager wurde auch von den Arbeitern bewacht, damit keine Tiere zu den Vorräten schlichen oder neugierige Reporter Fotos machten. Ureinwohner außer der heimischen Tierarten gab es keine. Rund um das Lager hatte man in einigem Abstand Fackeln aufgestellt; sie tauchten die Szenerie in eine fast schon romantische Stimmung. Nur am Waldrand waren die Fackeln weniger hell – so schien es. Dort flackerten sie auch nicht sonderlich, als wollten sie sich zu den Baumsoldaten vor ihnen einreihen.  
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  Tergun Balei stieg in die bereitstehende Limousine und tippte sich zum Abschied an den Hut. „Herr Doktor, ich empfehle mich und wünsche Ihnen viel Erfolg.“ Ebram nickte ihm lächelnd zu. „Vielen Dank – und Ihnen eine angenehme Heimfahrt!“ Er schlug die Autotür zu und lächelte freundlich, bis das Automobil außer Sicht war. Dann holte er tief Atem und seufzte. Sein Blick wanderte über das Camp und blieb am Wald hängen. Irgendwie wirkte die Dunkelheit im Wald wie ein Loch in die Tiefe, in das man hineinfallen konnte. Er schüttelte den Kopf, um den Gedanken loszuwerden, und machte sich auf zu seinem Zelt.   Dort angekommen warf er seine Jacke über einen der Hocker und ging direkt in den hinteren Raum. Dort befreite er sich von Krawatte, Schuhen und Weste, streckte sich einmal ausgiebig und setzte sich in die Hängematte. Kurz überlegte er, ob er sich noch ein Buch holen sollte, doch der Wein war ihm leicht zu Kopf gestiegen. Er würde sich eh nicht konzentrieren können.   Er schreckte aus dem Schlaf hoch – etwas hatte ihn geweckt, ein Geräusch vielleicht? Lauschend lag er in der Hängematte, und ein seltsames Gefühl kroch in ihm hoch. Sein Herz begann plötzlich hämmernd zu schlagen, und die Hände wurden kalt und feucht. Nervös wischte er sie am Hosenbein ab und überlegte aufzustehen, um einen Schluck Wasser zu trinken und etwas Wärme durch Bewegung in die Glieder fahren zu lassen. Schon hatte er ein Bein aus der Hängematte gestreckt, als ihn ein langgezogener Schrei, voller Wut und Grausamkeit, das Bein sofort wieder zurückziehen ließ. Er zog die Decke höher zum Kinn und wagte nicht, laut zu atmen.   Ein Schatten tauchte an der Zeltwand auf – ein unförmiges Ding schlich um das Zelt herum, schnüffelte. Ebram konnte sich nicht erklären, was das sein sollte. Sein rationaler Verstand arbeitete auf Hochtouren, während sein instinktgetriebener Körper vor Angst in Starre blieb. „Das ist nur ein Traum!“ sprach er in Gedanken mit sich selbst und schalt sich gleich darauf, dass er Selbstgespräche führte. Aber es half, also beruhigte er sich selbst. „Solche Wesen gibt es nicht, also muss dies ein Traum sein. Wach auf, Ebram, wach auf!“   Wie ein Mantra wiederholte er diese Worte – und dann, urplötzlich, wurde ihm die Luft aus der Lunge getrieben. Er blinzelte und versuchte zu begreifen, was los war. Dann verstand er: Er war im Schlaf aus der Hängematte gefallen und auf den Boden gekracht. Nach Luft ringend drehte er sich zur Seite, leicht gekrümmt, um den Schmerz etwas zu lindern, bis er wieder einigermaßen atmen konnte. Nach einer Weile konnte er sich wieder aufrichten und umsehen. Der Morgen dämmerte schon herauf, im Zelt war es entsprechend hell. Er ging nach draußen und besah sich den Boden vor dem Zelt – aber er fand keine Spuren. Niemand, auch kein Monster, war nächtens zu Besuch gewesen. Er lachte sich innerlich aus.  
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  Eine Stunde später hatte er sich gewaschen und frisch umgezogen. Bernard Hollwart räusperte sich vor seinem Zelt. „Dr. Rolfo? Möchten Sie gemeinsam mit uns frühstücken im großen Zelt?“ Ebram überlegte kurz. „Hmm, nein – aber Ihre Gesellschaft wäre mir durchaus recht.“ Nach kurzem Zögern antwortete der Vorarbeiter: „Einverstanden, ich lasse etwas bringen. Ich komme gleich wieder.“   Die kurze Verzögerung nutzte Ebram, um den Tisch kurz abzuwischen und die Hocker gegenüber auszurichten. Dann trat auch schon Hollwart ein. „Guten Morgen, Dr. Rolfo. Haben Sie gut geschlafen?“ „Ah, ich hatte einen seltsamen Traum von einem …“ – er hielt kurz inne – „… ach, nichts Wichtiges.“ „Sie hatten einen Alptraum?“ hakte Hollwart nach. „Hmm, ja, so könnte man es nennen – aber eben nur ein Traum.“ Ebram deutete auffordernd auf den Hocker. „Nichts, worüber man sich Gedanken machen müsste.“ Hollwart setzte sich und musterte den Doktor aufmerksam. „Ein Schrei in der Nacht? Ein Monster am Zelt? Sie sind nicht der Einzige.“
by Microsoft Copilot

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