Die Zeremonie
Kein schnelles Ende
Einer von Ebrams Assistenten kam auf ihn zu. Er wirkte weder geschockt noch furchtsam, sein Schritt war fest und sicher. Als er bei Ebram ankam, reichte er ihm eine Hand zum Aufstehen.
„Doktor Rolfo, bitte stehen Sie auf. Wir brauchen einen Zeremonienmeister, und er sagte, Sie wären dafür geeignet.“ Der junge Mann lächelte Ebram an, doch das Lächeln erreichte die Augen nicht. Diese waren leer und starrten durch ihn hindurch. Ebram hatte sich aus Reflex an der Hand hochgezogen, nun aber zog er sie eilig zurück und verspürte das Bedürfnis, sie irgendwo abzuwischen.
„Dr. Rolfo, bitte hier entlang!“, meinte der Assistent mit einer tiefen Verbeugung und einer ausholenden Bewegung in Richtung des Götzen und der grotesk darum herum drapierten Leichen.
Ebram trat einen Schritt zurück. „Wer hat das gesagt?“, hakte er nach.
„Er!“
„Wer ist ER?“ Sich wieder aufrichtend sah der Assistent zu ihm, ohne ihn tatsächlich zu sehen. „Er hat mir keinen Namen gesagt, aber er hat die Macht, uns hier rauszubringen.“ Skeptisch sah der Doktor zu dem Konstrukt in der Mitte des Lagers. „Hat er veranlasst, all die Menschen zu töten und zu entehren?“
Sichtlich begeistert antwortete der junge Mann: „Oh ja! Er nennt es Körpersprache! Ist es nicht wunderbar?“
Ebram trat noch einen Schritt zurück. Mit deutlicher Abscheu antwortete er: „Nein, ist es nicht. Es ist grässlich, grausam und bar jedes Sinns und Zwecks.“
Das Lächeln auf den Gesichtszügen seines Gegenübers fror ein Stück weit ein. „Es ist grausam, aber nicht grässlich und nicht ohne Sinn und Zweck.“ Er streckte die Hand wieder aus. „Er wird Sie führen, Dr. Rolfo. Er wird Sie anleiten. Sie werden bald verstehen.“
„Woher wollen Sie das wissen?“ Ebrams Blick blieb weiterhin skeptisch und vorsichtig.
„Ich weiß es von ihm. Er sagt es mir – gerade in diesem Moment. Er leitet mich an, so wie er Sie anleiten wird. Als Zeremonienmeister können Sie ihm ewig dienen. Er schenkt Ihnen Unsterblichkeit.“
„Kein Interesse!“, brach es geradezu aus Ebram heraus. Er suchte nach irgendetwas – einer Waffe, einem Werkzeug, einem Wunder – alles wäre ihm recht gewesen.“
„Das war ein Fehler, Dr. Rolfo!“ Der Assistent legte den Kopf in den Nacken. „Packt ihn!“ brüllte der Assistent mit einer Lautstärke, die Ebram ihm niemals zugetraut hätte.
Von überall her strömten die Arbeiter auf Ebram zu. Erst jetzt dämmerte ihm, dass er besser mitgespielt hätte – aber das Ausmaß dieses Wahnsinns war ihm nicht bewusst gewesen. Urplötzlich wurde er von Panik gepackt und sah sich hektisch um. Der Assistent stand ruhig neben ihm "Bleiben sie einfach stehen Dr. Rolfo, sie können nicht entkommen"
Von mehreren Richtungen rannten Männer auf ihn zu – nur fünf oder sechs – aber genug, um die Aussage des Assistenten bestätigen zu können. Dennoch rannte er los, ohne Ziel, einfach nur weg, die Angst beflügelte ihn. Er rempelte mehrere Leute um, einer stürzte sogar zu Boden, doch Ebram war es egal. Immer wieder sah er sich um, rannte Haken schlagend zwischen Zelten, Wagen und Bäumen hindurch. Er rüttelte an den Menschen, an denen er vorbeikam, bat um Hilfe – doch die meisten waren noch immer unter Schock oder selbst voller Furcht. In den Wald zu laufen traute er sich nicht, also rannte er im Kreis um das Lager, dann quer hindurch.
Es gab kein Entkommen, seine Kondition war zu schlecht im vergleich mit den Holzfällern. Immer häufiger musste er anhalten, Luft holen oder sich irgendwo abstützen, weil ihm die Knie weich wurden – seine Verfolger jedoch schienen nicht zu ermüden.
Ebram sah auf, wollte wissen, wer sein Fänger war – und erkannte Bernard. Der Vorarbeiter lächelte den nun vor Erleichterung aufseufzenden Doktor an. „Bernard!“ sprudelte es aus Ebram heraus. „Wir müssen hier weg – dein Auto!“
Doch Bernards Lächeln wirkte aufgesetzt und nicht echt. Als er dann auch noch rief: „Ich habe den Doktor!“, quietschte Ebram vor Entsetzen auf, stemmte die Füße in den Boden, begann erneut auf den starken Arm einzuschlagen – doch die Kraft des Vorarbeiters blieb ungebrochen. Schluchzend gab Ebram auf. „Bernard…“, rief er leise, erst jetzt begreifend, was er verloren hatte. „Bernaaard!“
Der Vorarbeiter schleifte ihn auf die Mitte des Platzes, wo sich mittlerweile etwa zehn Menschen mit leerem Blick versammelt hatten. Die anderen Arbeiter und Assistenten standen verteilt herum und wagten nicht einzugreifen. Der junge Assistent kam Hollwart entgegen, der den Doktor ohne Mühe hinter sich herzerrte.
„Sie sind keiner von uns“, meinte der junge Mann lauernd. „Stimmt“, bestätigte Hollwart, „aber ich will seine Unsterblichkeit. Macht mich zum Hohepriester!“ Durch Ebram ging eine Welle der Empörung. Ganz unbewusst und in seinem Stolz gekränkt, richtete er sich auf.
„Dieser Mann kann mir intellektuell nicht das Wasser reichen!“ Sein Zeigefinger deutete auf den Vorarbeiter – anklagend.
Der Assistent wandte sich mit neu erwachtem Interesse zu Ebram um. „Haben Sie es sich überlegt, Dr. Rolfo?“ Ebram brauchte einen kurzen Moment, um die Frage in den richtigen Kontext zu setzen. „Ähm…“ Aber sein Körper verriet ihn, denn er schüttelte vehement den Kopf. Er konnte nicht aus seiner Haut heraus – und er war ein schlechter Lügner, besonders unter Stress.
Der Assistent nickte Hollwart zu, der bereits eine Faust geballt hatte. Ebram sah die Faust heranfliegen, versuchte den Kopf wegzudrehen – doch Bernard hielt ihn immer noch mit der anderen Hand fest.
Heißer Schmerz explodierte im Kopf des Doktors. Dann engte sich rasend schnell sein Gesichtsfeld ein – und er wurde ohnmächtig.
Er saß vor dem Zelt des Vorarbeiters und schätzte, dass nicht viel Zeit vergangen war, denn der Wald wurde langsam heller. Vermutlich war es gegen zehn Uhr morgens. Sein Kopf war schwer und wackelte nur langsam von einer Seite zur anderen. Augenscheinlich wurden Vorbereitungen für später getroffen – man baute ein Podest neben dem Götzen. Ebrams Kopf sackte wieder nach unten, es fiel ihm schwer, ihn anzuheben.
Als er das nächste Mal den Kopf hob, mussten ein paar Stunden vergangen sein. Das Podest war fertig. Man hatte einen Pfahl in die Mitte gestellt und Holz darum herum aufgeschichtet. Ein Schaudern durchlief ihn. War der Scheiterhaufen für ihn?
Die Angst schnürte ihm die Kehle zu, und er begann heftig an seinen Armen zu ziehen. Aber sofort schossen Schmerzwellen durch seinen Körper, und er wimmerte leise, hörte auf zu zerren und versuchte, den Schmerz durch langsames Entspannen abzumildern. Tränen liefen ihm über das Gesicht.
Nach einer Weile traten zwei Schuhe in sein Blickfeld. Er hob vorsichtig den Kopf und erkannte Abby, die sich vor ihm in die Hocke begab. „Herr Doktor, Herr Doktor, tststs. Wie dumm kann man sein? Wer lehnt schon Unsterblichkeit ab?“
Ebrams Unterlippe zitterte, als er ihre Frage ignorierend selbst eine stellte: „Ist … der Scheiterhaufen … für … für … mich?“ Beim letzten Wort versagte ihm die Stimme fast gänzlich.
Abby sah über die Schulter hinweg zu dem Pfahl und nickte. „Ja, sieht so aus. Bernard kann keinen Konkurrenten gebrauchen.“ Sie wandte ihren Kopf wieder zu Ebram. Weich kamen ihre Worte über die Lippen. „Mein lieber Doktor, so schlau scheinen Sie nun ja doch nicht zu sein. Sie hätten mitspielen sollen und auf eine günstige Gelegenheit warten. Stattdessen tragen Sie Ihr Herz auf der Zunge und werden nun geopfert. So schade!“
Dann beugte sie sich leicht vor und zischte kaum hörbar: „Heute bei Anbruch der Dämmerung werden wir Sie holen. Das wird der Anfang vom Ende, Doktor.“ Mit diesen Worten stand sie auf und schlenderte mit wiegenden Hüften zum Podest mit dem Scheiterhaufen. Ebram ließ den Kopf hängen – er wollte nichts mehr davon sehen.
In seinen Wachphasen suchten seine Augen nach Bernard, der jedoch war nirgends zu entdecken. Unsinnigerweise machte sich Ebram tatsächlich Sorgen um ihn – und gleichzeitig schimpfte er innerlich mit sich selbst. Irgendwann begann er zu hoffen, dass alles endlich vorbei sei. Der Tod auf dem Scheiterhaufen war grauenhaft, und die Vorstellung, selbst bald auf einem zu stehen, raubte ihm fast den Verstand. Immer wieder holte sein Gehirn Passagen aus Geschichtsbüchern hervor, die beschrieben, wie das Sterben auf dem Scheiterhaufen ablief – und immer wieder schob er diese Gedanken gewaltsam beiseite. Irgendwann bemerkte er, dass es geschäftiger auf dem Platz vor dem Scheiterhaufen wurde. Man stellte kurze Baumstämme als Sitzgelegenheiten auf, ein schlichter Thron wurde errichtet. Feuer wurden ringsherum entzündet. Noch beleuchteten sie nicht wirklich die Szene, aber ein Blick in den Himmel bestätigte ihm, dass die Dämmerung nicht mehr fern war.
Er ließ den Kopf hängen. Leise begann er zu beten. Gläubig war er nie gewesen, aber in diesem Moment, kurz vor seinem Ende, war das egal. Wenn es einen Gott gab, der barmherzig war, dann lohnte es sich, es zu versuchen. Er betete für Rettung, für einen schnellen Tod, für das Aufwachen aus diesem Albtraum. Er sah seinen Hochmut ein, seinen Stolz. Er versprach, seine Familie zu besuchen, wenn er das hier überleben sollte, und alle Streitigkeiten beizulegen. Er wollte sich bessern, ja – aber dafür brauchte er eine zweite Chance. Er bettelte.
Die Dämmerung senkte sich herab, und die Feuer und Fackeln um den Platz herum tauchten die Szene in ein blutrotes, flackerndes Bild des Wahnsinns. Die ineinander verflochtenen Leichen um den Götzen herum schienen sich zu bewegen, die Schatten zuckten unter dem Schlag der Flammen. Dann hörte Ebram Worte in einer fremden Sprache, gerufen von seinem ehemaligen Assistenten, der nun an der Spitze einer Prozession aus Fackelträgern ging. Bernard war eingekreist von Fackelträgern – nackt und mit roter Farbe bemalt. Ebram kam nicht umhin, dem gut gebauten Vorarbeiter für seine Statur Anerkennung zu zollen – jetzt war es eh egal.
Die Prozession ging zum Götzen, und der Assistent huldigte in der seltsam anmutenden Sprache dem steinernen Abbild voller Inbrunst. Ebram ließ wieder den Kopf hängen und versuchte, an etwas Schönes zu denken. Vor sein inneres Auge schob sich jedoch Bernard – der Bernard, der bei den Baumstämmen ihn zum ersten Mal beim Vornamen genannt hatte. Er lächelte versonnen.
Ebram lauschte den Worten und hielt die Luft an, brauchte einen Moment, um zu begreifen. War es möglich? Er nickte langsam und wiederholte stockend: „Tumult, rechts, Baumstämme, Wagen, Ladefläche, Decke.“ Er fühlte kurz ihre Hand auf seiner Schulter, die sanft zudrückte. „Gut.“
Er sah zu ihr auf. „Wieso helfen Sie mir?“
Sie lächelte ihn an. „Nicht weil ich Sie mag, sondern weil Sie vermutlich der Einzige sind, der uns hier rausbringen kann – ohne diesem Wesen zu huldigen.“ Er schluchzte erneut auf. „Danke“, brachte er hervor – weinerlich, aber absolut ehrlich und voller Erleichterung.
„Warten Sie mit dem Dankesagen noch etwas – noch sind wir hier nicht weg.“ Sie stand auf und gab ihm noch einen Tritt gegen das Bein. Er schrie vor Schmerz laut auf – das kam zu überraschend. Glücklicherweise hatte sie die Fesseln nur gelockert, sodass er nicht instinktiv nach vorne greifen konnte und sich somit verraten hätte. Links neben sich hörte er Gelächter nach dem Tritt, und er sah verwirrt dorthin. Zwei Männer standen in der Nähe und beobachteten ihn. Waren sie schon die ganze Zeit dort gewesen?
Die nächste halbe Stunde war Ebram damit beschäftigt, seinen Gliedern wieder Leben einzuhauchen – ohne zu auffällig zu sein. Die beiden Wachen hatten zum Glück ihr Augenmerk auf die Zeremonie gerichtet und sahen nur ab und an zu ihm herüber. Gerade fragte sich Ebram noch, was für ein Tumult ausbrechen sollte, als ein ohrenbetäubendes Krachen das Camp erschütterte.
Dynamit!
Der Eisenbahnmogul hatte auch Dynamit bereitgestellt, das sie bisher nicht gebraucht hatten. Es war dafür gedacht gewesen, eventuelle Felsen wegzusprengen – oder, falls der Wall in der Stadt keinen Eingang besaß, hätte man damit einen geschaffen. Nun allerdings sah er Erdfontänen hochschießen, die Erde zitterte, und Menschen begannen zu schreien. Das Götzenbild neigte sich zur Seite und fiel mit einem lauten Krachen in die Leichen auf dieser Seite. Durch den Kranz der anderen Leichen ging kurz ein Zucken
Der Weg schien kilometerweit zu sein, und mehr als einmal musste er stehen bleiben, weil ihm übel wurde. Er kämpfte mit der aufsteigenden Galle, würgte sie wieder herunter und hangelte sich von Zelt zu Zelt. Dann sah er die gelagerten Baumstämme vor sich. Ein kleiner Jubelschrei entrang sich seiner Seele, und er vergaß kurz jeglichen Schmerz.
Eilig gelangte er hinter den Stapel und sah Bernards Geländewagen. Umständlich kletterte er auf die Ladefläche, nahm die dort bereitliegende Decke und zog sie sich über den Kopf. Er legte sich hin, wartete und lauschte.
Der Wagen wackelte keine fünf Minuten später. Jemand tastete kurz über die Decke, überzeugte sich, dass jemand darunter lag. Dann gingen Fahrertür und Beifahrertür auf – und wieder zu. Der Motor wurde gestartet. Ein kurzer, heftiger Ruck – und der Wagen fuhr los.
Ebram begann zu weinen. Er presste die Faust in den Mund, um sich zu beherrschen – aber ganz still zu sein gelang ihm nicht.
„Doktor Rolfo, bitte stehen Sie auf. Wir brauchen einen Zeremonienmeister, und er sagte, Sie wären dafür geeignet.“ Der junge Mann lächelte Ebram an, doch das Lächeln erreichte die Augen nicht. Diese waren leer und starrten durch ihn hindurch. Ebram hatte sich aus Reflex an der Hand hochgezogen, nun aber zog er sie eilig zurück und verspürte das Bedürfnis, sie irgendwo abzuwischen.
„Dr. Rolfo, bitte hier entlang!“, meinte der Assistent mit einer tiefen Verbeugung und einer ausholenden Bewegung in Richtung des Götzen und der grotesk darum herum drapierten Leichen.
Ebram trat einen Schritt zurück. „Wer hat das gesagt?“, hakte er nach.
„Er!“
„Wer ist ER?“ Sich wieder aufrichtend sah der Assistent zu ihm, ohne ihn tatsächlich zu sehen. „Er hat mir keinen Namen gesagt, aber er hat die Macht, uns hier rauszubringen.“ Skeptisch sah der Doktor zu dem Konstrukt in der Mitte des Lagers. „Hat er veranlasst, all die Menschen zu töten und zu entehren?“
Sichtlich begeistert antwortete der junge Mann: „Oh ja! Er nennt es Körpersprache! Ist es nicht wunderbar?“
Ebram trat noch einen Schritt zurück. Mit deutlicher Abscheu antwortete er: „Nein, ist es nicht. Es ist grässlich, grausam und bar jedes Sinns und Zwecks.“
Das Lächeln auf den Gesichtszügen seines Gegenübers fror ein Stück weit ein. „Es ist grausam, aber nicht grässlich und nicht ohne Sinn und Zweck.“ Er streckte die Hand wieder aus. „Er wird Sie führen, Dr. Rolfo. Er wird Sie anleiten. Sie werden bald verstehen.“
„Woher wollen Sie das wissen?“ Ebrams Blick blieb weiterhin skeptisch und vorsichtig.
„Ich weiß es von ihm. Er sagt es mir – gerade in diesem Moment. Er leitet mich an, so wie er Sie anleiten wird. Als Zeremonienmeister können Sie ihm ewig dienen. Er schenkt Ihnen Unsterblichkeit.“
„Kein Interesse!“, brach es geradezu aus Ebram heraus. Er suchte nach irgendetwas – einer Waffe, einem Werkzeug, einem Wunder – alles wäre ihm recht gewesen.“
„Das war ein Fehler, Dr. Rolfo!“ Der Assistent legte den Kopf in den Nacken. „Packt ihn!“ brüllte der Assistent mit einer Lautstärke, die Ebram ihm niemals zugetraut hätte.
Von überall her strömten die Arbeiter auf Ebram zu. Erst jetzt dämmerte ihm, dass er besser mitgespielt hätte – aber das Ausmaß dieses Wahnsinns war ihm nicht bewusst gewesen. Urplötzlich wurde er von Panik gepackt und sah sich hektisch um. Der Assistent stand ruhig neben ihm "Bleiben sie einfach stehen Dr. Rolfo, sie können nicht entkommen"
Von mehreren Richtungen rannten Männer auf ihn zu – nur fünf oder sechs – aber genug, um die Aussage des Assistenten bestätigen zu können. Dennoch rannte er los, ohne Ziel, einfach nur weg, die Angst beflügelte ihn. Er rempelte mehrere Leute um, einer stürzte sogar zu Boden, doch Ebram war es egal. Immer wieder sah er sich um, rannte Haken schlagend zwischen Zelten, Wagen und Bäumen hindurch. Er rüttelte an den Menschen, an denen er vorbeikam, bat um Hilfe – doch die meisten waren noch immer unter Schock oder selbst voller Furcht. In den Wald zu laufen traute er sich nicht, also rannte er im Kreis um das Lager, dann quer hindurch.
Es gab kein Entkommen, seine Kondition war zu schlecht im vergleich mit den Holzfällern. Immer häufiger musste er anhalten, Luft holen oder sich irgendwo abstützen, weil ihm die Knie weich wurden – seine Verfolger jedoch schienen nicht zu ermüden.
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Es geschah, als er sich umwandte, um nach seinen immer näher kommenden Verfolgern zu sehen. Er rannte in jemanden hinein, der nicht nachgab, sondern felsenfest stand – und diesmal brachte Ebram sich selbst zum Taumeln. Allerdings wurde er sofort gepackt und festgehalten. Er wollte sich wehren, trat aus, schlug auf den Arm ein und hatte alle Ringer-Kniffe, die er in seiner Studienzeit gelernt hatte, vergessen. Der Mann hielt ihn unbarmherzig fest.
Ebram sah auf, wollte wissen, wer sein Fänger war – und erkannte Bernard. Der Vorarbeiter lächelte den nun vor Erleichterung aufseufzenden Doktor an. „Bernard!“ sprudelte es aus Ebram heraus. „Wir müssen hier weg – dein Auto!“
Doch Bernards Lächeln wirkte aufgesetzt und nicht echt. Als er dann auch noch rief: „Ich habe den Doktor!“, quietschte Ebram vor Entsetzen auf, stemmte die Füße in den Boden, begann erneut auf den starken Arm einzuschlagen – doch die Kraft des Vorarbeiters blieb ungebrochen. Schluchzend gab Ebram auf. „Bernard…“, rief er leise, erst jetzt begreifend, was er verloren hatte. „Bernaaard!“
Der Vorarbeiter schleifte ihn auf die Mitte des Platzes, wo sich mittlerweile etwa zehn Menschen mit leerem Blick versammelt hatten. Die anderen Arbeiter und Assistenten standen verteilt herum und wagten nicht einzugreifen. Der junge Assistent kam Hollwart entgegen, der den Doktor ohne Mühe hinter sich herzerrte.
„Sie sind keiner von uns“, meinte der junge Mann lauernd. „Stimmt“, bestätigte Hollwart, „aber ich will seine Unsterblichkeit. Macht mich zum Hohepriester!“ Durch Ebram ging eine Welle der Empörung. Ganz unbewusst und in seinem Stolz gekränkt, richtete er sich auf.
„Dieser Mann kann mir intellektuell nicht das Wasser reichen!“ Sein Zeigefinger deutete auf den Vorarbeiter – anklagend.
Der Assistent wandte sich mit neu erwachtem Interesse zu Ebram um. „Haben Sie es sich überlegt, Dr. Rolfo?“ Ebram brauchte einen kurzen Moment, um die Frage in den richtigen Kontext zu setzen. „Ähm…“ Aber sein Körper verriet ihn, denn er schüttelte vehement den Kopf. Er konnte nicht aus seiner Haut heraus – und er war ein schlechter Lügner, besonders unter Stress.
Der Assistent nickte Hollwart zu, der bereits eine Faust geballt hatte. Ebram sah die Faust heranfliegen, versuchte den Kopf wegzudrehen – doch Bernard hielt ihn immer noch mit der anderen Hand fest.
Heißer Schmerz explodierte im Kopf des Doktors. Dann engte sich rasend schnell sein Gesichtsfeld ein – und er wurde ohnmächtig.
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Als Ebram wieder erwachte, dröhnte sein Kopf, und er hatte einen seltsamen Geschmack im Mund. Er versuchte, sich zu bewegen, und stellte schmerzhaft fest, dass seine Hände hinter einem Pfosten auf den Rücken gebunden waren und er sehr unbequem auf dem Boden saß. Aufstehen war für ihn unmöglich; sobald er sich bewegte, schoss ein schmerzhaftes Ziehen durch Arme und Schultern. Stöhnend hob er den Kopf und versuchte zu erkennen, wie viel Zeit vergangen war, wo genau er sich befand und was nun passieren würde.
Er saß vor dem Zelt des Vorarbeiters und schätzte, dass nicht viel Zeit vergangen war, denn der Wald wurde langsam heller. Vermutlich war es gegen zehn Uhr morgens. Sein Kopf war schwer und wackelte nur langsam von einer Seite zur anderen. Augenscheinlich wurden Vorbereitungen für später getroffen – man baute ein Podest neben dem Götzen. Ebrams Kopf sackte wieder nach unten, es fiel ihm schwer, ihn anzuheben.
Als er das nächste Mal den Kopf hob, mussten ein paar Stunden vergangen sein. Das Podest war fertig. Man hatte einen Pfahl in die Mitte gestellt und Holz darum herum aufgeschichtet. Ein Schaudern durchlief ihn. War der Scheiterhaufen für ihn?
Die Angst schnürte ihm die Kehle zu, und er begann heftig an seinen Armen zu ziehen. Aber sofort schossen Schmerzwellen durch seinen Körper, und er wimmerte leise, hörte auf zu zerren und versuchte, den Schmerz durch langsames Entspannen abzumildern. Tränen liefen ihm über das Gesicht.
Nach einer Weile traten zwei Schuhe in sein Blickfeld. Er hob vorsichtig den Kopf und erkannte Abby, die sich vor ihm in die Hocke begab. „Herr Doktor, Herr Doktor, tststs. Wie dumm kann man sein? Wer lehnt schon Unsterblichkeit ab?“
Ebrams Unterlippe zitterte, als er ihre Frage ignorierend selbst eine stellte: „Ist … der Scheiterhaufen … für … für … mich?“ Beim letzten Wort versagte ihm die Stimme fast gänzlich.
Abby sah über die Schulter hinweg zu dem Pfahl und nickte. „Ja, sieht so aus. Bernard kann keinen Konkurrenten gebrauchen.“ Sie wandte ihren Kopf wieder zu Ebram. Weich kamen ihre Worte über die Lippen. „Mein lieber Doktor, so schlau scheinen Sie nun ja doch nicht zu sein. Sie hätten mitspielen sollen und auf eine günstige Gelegenheit warten. Stattdessen tragen Sie Ihr Herz auf der Zunge und werden nun geopfert. So schade!“
Dann beugte sie sich leicht vor und zischte kaum hörbar: „Heute bei Anbruch der Dämmerung werden wir Sie holen. Das wird der Anfang vom Ende, Doktor.“ Mit diesen Worten stand sie auf und schlenderte mit wiegenden Hüften zum Podest mit dem Scheiterhaufen. Ebram ließ den Kopf hängen – er wollte nichts mehr davon sehen.
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Ebram wechselte immer wieder zwischen kurzen Wach- und Schlafphasen. Zeit war für ihn nichts Greifbares mehr – Schmerzen dafür umso mehr. Seine Finger waren taub, sein Kopf hämmerte, Schultern und Rücken eine einzige brennende Fläche des Schmerzes. Durch die unbequeme Haltung war auch sein eines Bein eingeschlafen, und beim anderen drückte ein großer, spitzer Stein ins Fleisch – doch er konnte die Position des Beins nicht verändern.
In seinen Wachphasen suchten seine Augen nach Bernard, der jedoch war nirgends zu entdecken. Unsinnigerweise machte sich Ebram tatsächlich Sorgen um ihn – und gleichzeitig schimpfte er innerlich mit sich selbst. Irgendwann begann er zu hoffen, dass alles endlich vorbei sei. Der Tod auf dem Scheiterhaufen war grauenhaft, und die Vorstellung, selbst bald auf einem zu stehen, raubte ihm fast den Verstand. Immer wieder holte sein Gehirn Passagen aus Geschichtsbüchern hervor, die beschrieben, wie das Sterben auf dem Scheiterhaufen ablief – und immer wieder schob er diese Gedanken gewaltsam beiseite. Irgendwann bemerkte er, dass es geschäftiger auf dem Platz vor dem Scheiterhaufen wurde. Man stellte kurze Baumstämme als Sitzgelegenheiten auf, ein schlichter Thron wurde errichtet. Feuer wurden ringsherum entzündet. Noch beleuchteten sie nicht wirklich die Szene, aber ein Blick in den Himmel bestätigte ihm, dass die Dämmerung nicht mehr fern war.
Er ließ den Kopf hängen. Leise begann er zu beten. Gläubig war er nie gewesen, aber in diesem Moment, kurz vor seinem Ende, war das egal. Wenn es einen Gott gab, der barmherzig war, dann lohnte es sich, es zu versuchen. Er betete für Rettung, für einen schnellen Tod, für das Aufwachen aus diesem Albtraum. Er sah seinen Hochmut ein, seinen Stolz. Er versprach, seine Familie zu besuchen, wenn er das hier überleben sollte, und alle Streitigkeiten beizulegen. Er wollte sich bessern, ja – aber dafür brauchte er eine zweite Chance. Er bettelte.
Die Dämmerung senkte sich herab, und die Feuer und Fackeln um den Platz herum tauchten die Szene in ein blutrotes, flackerndes Bild des Wahnsinns. Die ineinander verflochtenen Leichen um den Götzen herum schienen sich zu bewegen, die Schatten zuckten unter dem Schlag der Flammen. Dann hörte Ebram Worte in einer fremden Sprache, gerufen von seinem ehemaligen Assistenten, der nun an der Spitze einer Prozession aus Fackelträgern ging. Bernard war eingekreist von Fackelträgern – nackt und mit roter Farbe bemalt. Ebram kam nicht umhin, dem gut gebauten Vorarbeiter für seine Statur Anerkennung zu zollen – jetzt war es eh egal.
Die Prozession ging zum Götzen, und der Assistent huldigte in der seltsam anmutenden Sprache dem steinernen Abbild voller Inbrunst. Ebram ließ wieder den Kopf hängen und versuchte, an etwas Schönes zu denken. Vor sein inneres Auge schob sich jedoch Bernard – der Bernard, der bei den Baumstämmen ihn zum ersten Mal beim Vornamen genannt hatte. Er lächelte versonnen.
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Plötzlich spürte er hinter sich eine Bewegung, dann kühle Hände, die seine Fesseln lockerten. Er schluchzte einmal voller Selbstmitleid auf. Dann erklang leise eine bekannte weibliche Stimme an seinem Ohr:
„Keinen Mucks, Doktor. Fangen Sie an, Ihre Arme und Beine zu massieren, damit Sie laufen können. Wenn der Tumult ausbricht, dann laufen Sie nach rechts hinter die gestapelten Baumstämme. Dort steht Bernards Wagen. Klettern Sie auf die Ladefläche und ziehen Sie die Decke über den Kopf. Haben Sie das verstanden?“
Ebram lauschte den Worten und hielt die Luft an, brauchte einen Moment, um zu begreifen. War es möglich? Er nickte langsam und wiederholte stockend: „Tumult, rechts, Baumstämme, Wagen, Ladefläche, Decke.“ Er fühlte kurz ihre Hand auf seiner Schulter, die sanft zudrückte. „Gut.“
Er sah zu ihr auf. „Wieso helfen Sie mir?“
Sie lächelte ihn an. „Nicht weil ich Sie mag, sondern weil Sie vermutlich der Einzige sind, der uns hier rausbringen kann – ohne diesem Wesen zu huldigen.“ Er schluchzte erneut auf. „Danke“, brachte er hervor – weinerlich, aber absolut ehrlich und voller Erleichterung.
„Warten Sie mit dem Dankesagen noch etwas – noch sind wir hier nicht weg.“ Sie stand auf und gab ihm noch einen Tritt gegen das Bein. Er schrie vor Schmerz laut auf – das kam zu überraschend. Glücklicherweise hatte sie die Fesseln nur gelockert, sodass er nicht instinktiv nach vorne greifen konnte und sich somit verraten hätte. Links neben sich hörte er Gelächter nach dem Tritt, und er sah verwirrt dorthin. Zwei Männer standen in der Nähe und beobachteten ihn. Waren sie schon die ganze Zeit dort gewesen?
Die nächste halbe Stunde war Ebram damit beschäftigt, seinen Gliedern wieder Leben einzuhauchen – ohne zu auffällig zu sein. Die beiden Wachen hatten zum Glück ihr Augenmerk auf die Zeremonie gerichtet und sahen nur ab und an zu ihm herüber. Gerade fragte sich Ebram noch, was für ein Tumult ausbrechen sollte, als ein ohrenbetäubendes Krachen das Camp erschütterte.
Dynamit!
Der Eisenbahnmogul hatte auch Dynamit bereitgestellt, das sie bisher nicht gebraucht hatten. Es war dafür gedacht gewesen, eventuelle Felsen wegzusprengen – oder, falls der Wall in der Stadt keinen Eingang besaß, hätte man damit einen geschaffen. Nun allerdings sah er Erdfontänen hochschießen, die Erde zitterte, und Menschen begannen zu schreien. Das Götzenbild neigte sich zur Seite und fiel mit einem lauten Krachen in die Leichen auf dieser Seite. Durch den Kranz der anderen Leichen ging kurz ein Zucken
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Ebram sah fasziniert zu, bis ihm plötzlich einfiel, dass er loslaufen sollte. Umständlich und geschwächt zog er sich am Pfosten hoch, während seine Handgelenke aus den Fesseln glitten. Zuerst wandte er sich nach links, dann nach rechts – unsicher, wohin er sollte. Doch dann erinnerte er sich wieder… „Rechts!... Baumstämme… Auto!“, murmelte er vor sich hin und humpelte los.
Der Weg schien kilometerweit zu sein, und mehr als einmal musste er stehen bleiben, weil ihm übel wurde. Er kämpfte mit der aufsteigenden Galle, würgte sie wieder herunter und hangelte sich von Zelt zu Zelt. Dann sah er die gelagerten Baumstämme vor sich. Ein kleiner Jubelschrei entrang sich seiner Seele, und er vergaß kurz jeglichen Schmerz.
Eilig gelangte er hinter den Stapel und sah Bernards Geländewagen. Umständlich kletterte er auf die Ladefläche, nahm die dort bereitliegende Decke und zog sie sich über den Kopf. Er legte sich hin, wartete und lauschte.
Der Wagen wackelte keine fünf Minuten später. Jemand tastete kurz über die Decke, überzeugte sich, dass jemand darunter lag. Dann gingen Fahrertür und Beifahrertür auf – und wieder zu. Der Motor wurde gestartet. Ein kurzer, heftiger Ruck – und der Wagen fuhr los.
Ebram begann zu weinen. Er presste die Faust in den Mund, um sich zu beherrschen – aber ganz still zu sein gelang ihm nicht.


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