Der lange Weg

Jeder Schritt eine Qual

Diese kleine Szene am Morgen hatte Spannungen geschaffen und gelöst. Für die drei Flüchtenden war es ein Stück Menschlichkeit, das sie so dringend benötigten während der gemeinschaftlichen Reise. Auch wenn Ebram mit der rauen und oft sehr direkten Art von Abby seine Schwierigkeiten hatte, war sie auf eine seltsame Art eine Konstante, auf die man sich verlassen konnte. Bernard hingegen sorgte bei Ebram für mehr Durcheinander, als er begreifen konnte – und vor allem wollte Ebram sich immer noch nicht eingestehen, dass er eventuell eine Vorliebe für Männer haben könnte. In seiner Überzeugung schuf diese Ausnahmesituation auch die Ausnahme bezüglich seiner sexuellen Orientierung. Besondere Zeiten verlangten besondere Freundschaften.
Abby hatte sich aufgesetzt und aus ihrem Rucksack einen kleinen Gaskocher mit Kartusche hervorgeholt. Eine eiserne Kanne wurde mit Wasser und einem Beutel Tee gefüllt, dessen Duft bald den kleinen Rastplatz erfüllte. Bernard nahm aus einem Dosenbrot drei dünne Scheiben und verteilte sie. Dazu gab es eine fettige Streichwurst mit etwas getrockneter Petersilie aus einem Säckchen, das Abby dabei hatte. Der große Vorarbeiter hatte sein Brot in Windeseile gegessen und schaute sich um. „Findet ihr es nicht auch seltsam, dass der Wald keine Anstalten macht, uns aufzuhalten?“
Abby sah sich nun ebenfalls um. „Ja, irgendwie schon. Aber vielleicht kann das Ding, was auch immer es ist, nicht überall sein?“
„Es muss nicht überall sein, es kann sich auf uns beschränken. Warum also werden wir nicht aufgehalten?“
Räuspernd meldete sich Ebram zu Wort. „Weil wir in die Richtung gehen, in die ER uns haben will, nehme ich an.“
„Ja, das denke ich auch“, bestätigte Bernard und fügte an: „Vielleicht ist es besser, wenn wir umkehren und nicht dem Willen des Dings folgen.“
Entschlossen schüttelte Abby den Kopf. „Dann wird es uns aufspießen, so wie den einen Arbeiter, der flüchten wollte. Ich weiß zwar nicht, was uns dort vorne erwartet, aber ich weiß, was uns erwartet, wenn wir zurückgehen – und darauf kann ich verzichten. Ich gehe auch ohne euch weiter, wenn’s sein muss, nur damit das klar ist.“  
Verstohlen musterte Ebram die junge Frau und fragte sich, woher sie diesen unerschütterlichen Mut nahm. Sein Blick wanderte zu dem großen Mann auf der anderen Seite, der Abby nickend zustimmte und langsam von seiner Teetasse schlürfte. „Vermutlich hast du recht, Abby, aber vielleicht erwartet uns dort vorne Schlimmeres?“
Abby sprang auf. „Bernard, du weißt, dass ich nicht zurückgehen werde!“ Sie begann, den restlichen Tee aus der Kanne zu schütten und pfefferte den Teebeutel irgendwo zwischen die Bäume. Ebram sah fragend zum Vorarbeiter hinüber, und dieser formte mit dem Mund lautlose Worte: „Lange Geschichte!“
Eine Augenbraue hebend folgte Ebram mit den Augen Abbys Bemühungen, schnell zusammenzupacken. Sie knüllte Decke und Schlafsack zusammen, doch so passten sie nicht in den Rucksack hinein. „Kommt ihr jetzt langsam in die Gänge, oder muss ich euch schieben?“ blaffte sie in die Richtung der beiden Männer.  
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  Bernard stand auf und nahm Abby Decke und Schlafsack ab. Kurz zog sie noch trotzig daran, dann ließ sie den Kopf hängen. Der Vorarbeiter legte eine Hand auf Abbys Schulter, und sie ließ sich einfach gegen ihn sacken. Ganz selbstverständlich nahm er sie in die Arme und tröstete sie mit seiner Gegenwart. Ebram verfolgte die Szene mit gemischten Gefühlen, stand nun auch auf und überlegte, ob er nun auch seine Arme tröstend um Abby legen sollte. Dann schüttelte er leicht den Kopf und packte seine Sachen zusammen. Er würde Bernard später fragen, was mit der jungen Frau los war.
Bernard reichte, als Ebram an ihm vorbeiging, Decke und Schlafsack weiter, drückte Abby sacht ein wenig von sich und hob ihren Kopf am Kinn an. Mit den Daumen wischte er die kleine Tränenspur auf ihrer Wange weg. „Wir finden ihn, Abby“, sagte er mit beruhigend sanfter Stimme. Ebram wurde aufmerksam und lauschte, aber beide sprachen nicht weiter.
Nach einer Weile schniefte die junge Frau nur noch ein wenig, wischte sich mit den Handballen die restlichen Tränen aus dem Gesicht und presste die Lippen entschlossen zusammen. Entschlossen wie zuvor nahm sie ihren Rucksack, der mittlerweile von Ebram gepackt worden war, auf den Rücken und wartete geduldig, aber mit ungeduldigen Blicken, bis die beiden Männer ebenfalls soweit waren. Diesmal ging sie vorneweg, Bernard in der Mitte und Ebram bildete den Schluss.
Sie war nicht so schnell unterwegs wie der Vorarbeiter, und diesmal kamen alle gut mit. Als Abby zwischendrin kurz hinter ein paar Bäume ging, um sich zu erleichtern, schloss Ebram zu Bernard auf. „Bernard? Wen oder was sucht Abby eigentlich hier?“
Der große Mann überlegte kurz, entschloss sich aber dann, den Doktor aufzuklären. „Abbys Vater war auch auf der Suche nach der Stadt und ist nie zurückgekehrt. Vielleicht hast du von ihm schon gehört: Prof. Dr. Philipp Martin, ein Archäologe.“
Ebram riss die Augen auf. „Sie ist Abigail Martin, die Tochter, die Prof. Martin mit auf all seine Ausgrabungen genommen hat? Die erste weibliche Archäologin der Universi…“ Weiter kam er nicht, denn Abby tauchte wieder hinter den Bäumen auf, und er verstummte abrupt. Bernard schmunzelte, als er den Blick von Ebram bemerkte, der nun ganz anders auf Abby lag.
Die junge Frau bemerkte sehr wohl die Aufmerksamkeit, die sie erregte. „Ist was?“ Schnell den Kopf schüttelnd und breit lächelnd verneinte Ebram ihre Frage. „Alles gut, können wir weiter?“
  Sie ging wieder voran, und Ebram sah zu Bernard eindringlich hoch. Nun formte er auch überdeutlich lautlose Worte zu Bernard und deutete auf Abbys Rücken. „Wieso hast du nichts gesagt?“ Der große Mann grinste und zuckte mit den Schultern. Die Augen verdrehend ließ der Doktor sich wieder hinter Bernard fallen und versuchte sich zu erinnern, was er über Prof. Martin wusste. Viel war es nicht, er hatte nur die Bücher gelesen, den Mann selbst hatte er nie kennengelernt. Geschichte und Archäologie waren zwei sehr verwandte Fächer, wobei das eine eher praktisch ausgeübt wurde, das andere eher theoretisch. Keines von beiden konnte ohne das andere existieren. Vielleicht war es ein Wink des Schicksals, dass Abby dabei war.  
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  Ebram war es nicht gewohnt, lange Strecken zu laufen, und nach etwas mehr als drei Stunden schnaufte er bei jedem Schritt. Irgendwann blieb er stehen. „Bernard? Pause… bitte!“ Der Vorarbeiter blieb ebenfalls stehen und gab den Ruf weiter an Abby. An einen Baum gelehnt, schwer atmend, schloss Ebram kurz die Augen. Dann öffnete er sie langsam wieder, als er das geschäftige Treiben seiner Begleiter hörte, die alles für eine Mittagsrast herrichteten.
Bernard sah ihn an. „Komm, setz dich, Ebram. Wir stärken uns, dann gehen wir weiter.“
Sich vom Baum abstoßend setzte sich der Doktor zu den beiden und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Ich hätte nicht… gedacht… dass es so… anstrengend wird“, sagte er zwischen heftigem Luftholen.
Die junge Archäologin reichte ihm einen Becher mit Wasser. „Wir gehen seit einer Weile bergauf, nur sanft, aber man spürt es.“
Lächelnd und dankbar nahm Ebram den Becher. „Ja, man spürt es!“, wiederholte er die Aussage und sah unauffällig zurück. Ja, da war eine sanfte Steigung – er hatte sie nicht wahrgenommen.  
Dann entdeckte er einen Schatten viel weiter unten, der sich hinter einem Baum versteckte. Erschrocken ließ er den Becher fallen. Bernard und Abby sahen zu ihm mit fragendem Blick. Er machte mit den Augen und leichten Kopfbewegungen auf die Richtung aufmerksam und flüsterte: „Ich glaube, wir werden verfolgt!“
Die beiden nickten, sprachen aber in normaler Lautstärke weiter: „Ja, wissen wir. Aber sie nähern sich uns nicht, bleiben immer auf Abstand.“
„Ihr wusstet es? Wieso habt ihr nichts gesagt?“, regte sich Ebram auf.
Bernard schüttelte den Kopf. „Um dich nicht zu beunruhigen.“
„Ich bin kein Kind, das man vor der Wahrheit beschützen muss!“ Die Stimme von Ebram klang empört.
Stichelnd kam Abbys Kommentar zu Bernard: „Siehst du, wir hätten es ihm gleich sagen sollen, dann wäre er schneller zu Fuß gewesen.“ Ebram schnappte nach Luft, und Bernard wies die junge Frau scharf zurecht. „Abby!“
„Ist doch wahr! Angst beflügelt den Schritt!“
Ebram sah zwischen den beiden hin und her, ohne einzugreifen – der Schlagabtausch ging zu schnell. „Angst macht auch unvorsichtig!“
„Das ist egal, wenn man schneller als der Feind ist.“
„Wenn du in ein Erdloch fällst und der Feind aufholen kann, weil du unachtsam warst…“
„Dann war ich eben dumm und hab es nicht anders verdient!“
„Abby!“  
Sie schob schmollend die Unterlippe vor, und Bernard sah zu Ebram, der bass erstaunt war über den Wortwechsel. „So denkt ihr über mich? Du auch?“, er sah zu Bernard. Dieser seufzte. „Ja und nein. Du hast eine schwache Kondition, du würdest dich allein hier verlaufen, du bist derzeit seelisch nicht auf der Höhe – das ist meine Schuld, ich weiß. Also ja und nein. Du wirst mit der Zeit immer besser mithalten können, und das andere… na ja.“ Er lächelte schief. „Das andere wird vermutlich noch schlimmer werden.“
 
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Nach der Rast gingen sie schweigend weiter. Ebram war gekränkt und blieb hinten in der Reihe. Immer wieder sah er sich um, aber den Schatten entdeckte er nicht mehr. Nun aber, da er wusste, dass sie verfolgt wurden, hatte er immer das Gefühl, beobachtet zu werden. Dazu kroch auch noch langsam eine unbestimmte Angst in ihm hoch, die ihn tatsächlich immer dichtauf hinter Bernard gehen ließ – er wollte seine Gefährten auf keinen Fall verlieren. Die Stunden schleppten sich dahin, und Ebram bemerkte, dass Abby wie auch Bernard zwischendrin langsamer gingen, damit er aufholen konnte und sich nicht überanstrengte. Diese verborgene Fürsorge ärgerte ihn, aber anders wäre er schon längst weit zurückgefallen. Ihn ärgerte gerade alles: die Fürsorge, seine eigene Schwäche, seine Gefühle für Bernard, Abbys entdecktes Geheimnis, seine Füße, der Rucksack, der Wald, der Schatten… die Liste war unendlich.

Als die Dämmerung begann, suchten Abby und Bernard einen guten Lagerplatz. Sie fanden eine kleine Lichtung, die genügend Platz für alle bot, doch Ebram marschierte weiter mit hochmütigem Blick und fest entschlossen, noch nicht zu rasten. Die junge Frau wollte schon etwas hinterherrufen, aber der Blick von Bernard hielt sie zurück. Dieser folgte Ebram und holte ihn schließlich ein.
„Ebram, was soll das?“ Er stellte sich dem Doktor in den Weg.
Mit verkniffenem Gesichtsausdruck versuchte Ebram, am Vorarbeiter vorbeizukommen, doch der ließ ihm keine Chance. „Ebram!“
Stumm starrte Ebram seinen Gegenüber an, als könnte er ihn niederstarren und so den Weg freimachen.
Als Bernard die Stimmung richtig deutete, seufzte er und schüttelte resigniert den Kopf. „Gut, wie du willst!“ Er trat beiseite, um Ebram vorbeizulassen.  
Ebram schaffte vielleicht fünf Schritte, dann drehte er sich um. Der große, breitschultrige Bernard stand mit verschränkten Armen an gleicher Stelle und sah ihn an. Kein Vorwurf war in seinem Blick, nur Aufmerksamkeit. Eine Weile standen sie sich gegenüber. Ebrams Furcht überwog den Stolz, den er nur zeigen konnte, wenn andere dabei waren – die fünf Schritte weiter, ohne Bernard oder auch Abby, zeigten ihm, wie viel von seinem Nervenkostüm noch übrig war. Zu wenig. Seine Schultern verloren jede Spannung, sein Kopf sackte auf die Brust. „Ich bin die Schwachstelle, nicht wahr?“, fragte er leise.
Er bekam keine Antwort, sondern eine Umarmung. Feste, starke Arme hielten ihn umfangen und gaben ihm wieder Halt. „Ja, das bist du“, antwortete Bernard. „Aber das nehme ich in Kauf.“
 
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  Als beide zurückkamen, hatte Abby das Lager fertig eingerichtet und Tee aufgegossen. Ebram trat zuerst auf die Lichtung, gefolgt von Bernard, der ihm eine Hand auf die Schulter gelegt hatte. Der Doktor ging zu Abby und setzte sich ihr gegenüber. Ohne einleitende Worte sprach er sie an: „Es tut mir leid. Ich bin eine Last für euch, und doch nehmt ihr mich mit. Ich habe dir nie gedankt für deine Hilfe. Du hast meine Kopfverletzung behandelt, du hast mich aus dem Lager befreit, und jetzt schleifst du mich mit – wohl wissend, dass ich alle verlangsame und meine Nerven blank liegen.“ Er sah nicht auf, der Kopf blieb weiterhin unten.
Als Abby nicht antwortete, wagte er doch einen Blick und musste erstaunt feststellen, dass die sonst so schlagfertige Dame keine Worte fand. Das zauberte ein Lächeln auf seine Lippen – nicht aus Schadenfreude, sondern weil ihre Fassade eingerissen war und er kurz sehen konnte, dass sie nur nach außen hin so stark war. Das machte vieles leichter.  
Sie hielten keine Nachtwache, denn solange sie in die richtige Richtung gingen, würde man sie nicht behelligen. Ob es tatsächlich so war, wussten sie nicht mit Bestimmtheit, aber alles deutete darauf hin, und sie brauchten die Erholung. Wie selbstverständlich legte Bernard seinen Schlafsack direkt an Ebrams. Abby lag ihnen gegenüber und schmunzelte, als sie die fahrigen Bewegungen des Doktors sah. Sie konnte sich den Kommentar nicht verkneifen: „Ich werd auch nicht lauschen! Großes Pfadfinderehrenwort, nur zuschauen!“
Was Ebram mal wieder die Wangen rot erblühen und Bernard lachen ließ. Der saß schon in seinem Schlafsack und zog Ebram einfach nach unten. „Keine Angst, ich falle nicht über dich her. Viel zu ungemütlich hier“, er warf einen Blick zu Abby, „… und zu viele Zuschauer.“ Es dauerte eine Weile, aber dann konnte Ebram das Gefühl akzeptieren und auch genießen, auf dem Arm von Bernard einzuschlafen, während der andere schwer über seiner Hüfte lag.  
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  Die nächsten Tage waren von Gleichmäßigkeit und Anstrengung geprägt. Ebram erhaschte nun doch immer mal wieder einen Blick auf eine Gestalt, die ihnen folgte, wobei er mittlerweile glaubte, dass es nicht nur eine Person war. Vermutlich folgte ihnen das halbe Lager. Mittlerweile wechselten sich Auf- und Abstieg in einer gewissen Regelmäßigkeit ab, was Abby vermuten ließ, dass es künstliche Hügel waren. Immer wenn sie rasteten, suchte sie die Umgebung ab nach Hinweisen. Auch Ebram suchte nach Merkmalen wie Mauerreste oder verwitterten Holzkonstruktionen, aber sie fanden nichts. Die Anspannung zwischen den Gefährten hatte mit der Routine nachgelassen, und sogar Ebram versuchte sich an der einen oder anderen Neckerei. Es war surreal. Sie waren auf der Flucht nach vorne, aber sie scherzten miteinander und genossen die Gesellschaft.  
Am fünften Tag ihrer Reise stieß Abby auf die ersten steinernen Zeugen einer Zivilisation. Es waren nur ein paar behauene Steine – zu gerade Kanten, um natürlich zu sein. Sie lagen verstreut auf einem kleinen Areal herum und wären beinahe übersehen worden durch das Moos, das sie teilweise bedeckte. Aufgeregt gingen Abby und Ebram um die Steine herum, kratzten vorsichtig das Grünzeug von der Oberfläche und versuchten zu erkennen, ob es Beschriftungen gab oder Muster. Hier auf dieser Wissensebene verstanden sich die beiden ausgezeichnet und bewarfen sich mit Fachausdrücken und Hypothesen, während Bernard etwas ratlos daneben stand und nicht mal die Hälfte von dem verstand, was die beiden sagten.  
Sie hatten die Steine soweit befreit und Bernard gebeten, sie nebeneinander aufzustellen. Begeistert dirigierten sie den großen Mann hin und her, der dann irgendwann den Stein, den er gerade trug, fallen ließ mit den Worten: „Spielt euer Domino ohne mich!“ Die beiden Forscher störte das jedoch nicht – sie hatten endlich etwas gefunden, das vielleicht einen Hinweis auf die Stadt enthielt. Abby tastete über einen Stein und runzelte die Stirn. „Ich glaube, das könnte ein Muster oder eine Zeichnung sein.“
Aufmerksam geworden kam Ebram zu ihr herüber. Sie fuhr mit zwei Fingern eine Linie nach, die er nicht sehen konnte, doch dann zog sie die Hand ruckartig weg. Ebram legte fragend den Kopf schief. Sie steckte sich die zwei Finger in den Mund und grinste schief: „Ein Steinsplitter, nehm ich an.“
Bernard kam dazu. „Zeig her!“ Sie verzog den Mund schmollend und zeigte ihm die zwei Finger. Gründlich besah sich Bernard die Finger und runzelte die Stirn. „Ich sehe nichts.“ Sie sah selbst nach und fühlte mit der Zunge die wunde Stelle. „Komisch, ich dachte, ich hätte mich gestochen. Na, egal. Dann hab ich mich wohl getäuscht.“  
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  Sie zogen weiter, wenn auch vonseiten Abby und Ebram sehr widerwillig. Mit der Dämmerung schlugen sie ihr Lager auf und machten eine Bestandsaufnahme des Essens – es würde noch eine Woche reichen, wenn sie weiterhin rationierten. Bernard und Ebram lehnten sich aneinander, Rücken an Rücken, und genossen die Nähe. Abby indes war heute schweigsam. Immer wieder sah sie auf ihre Finger, steckte sie in den Mund und tastete sie erneut ab. Den beiden Männern war das aufgefallen, doch als sie nachgefragt hatten, hatte Abby abgewunken. Nach dem Essen rollten sich alle in ihre Schlafsäcke ein – die beiden Männer nah beieinander, Abby wie immer gegenüber. Selbst wenn es kalt wurde, blieb sie auf ihrer Seite.  
Ebram erwachte mit einem seltsamen Gefühl. Er konnte es nicht benennen im Halbschlaf, aber in letzter Zeit war so vieles passiert, dass er wachsamer geworden war. Zuerst lauschte er in die nähere Umgebung. Bernards warmer Atem streifte seinen Nacken, der schwere Arm und ein Bein lagen ebenfalls auf ihm. Er lächelte innerlich und wollte schon wieder einschlafen, als er direkt vor sich ein Rascheln hörte. Er erstarrte und öffnete ganz langsam ein Auge einen Spalt breit – und wäre beinahe vor Schreck zusammengezuckt. Direkt vor seinem Gesicht war Abbys Gesicht, und sie starrte ihn an. Der Blick war seltsam, ein Hauch von Gier lag darin. Ebram überlegte, ob er etwas sagen sollte, schwieg aber und beobachtete weiter. Sein Herz begann heftiger zu klopfen, und seine Hände wurden kalt und schwitzig.  
Abby blinzelte nicht. Sie starrte ihn die ganze Zeit an. Dann, von einem auf den anderen Moment, stand sie auf und ging wieder zurück zu ihrem Schlafsack. Schlupfte hinein und lag dann still. Ebram schluckte krampfhaft und überlegte, was er tun sollte, aber es war nichts Gefährliches daran, dass Abby ihn beobachtete. Es war unheimlich, das musste er zugeben, aber er beschloss, dafür jetzt nicht Bernard zu wecken. Morgen früh konnte er Abby ja danach fragen. Am nächsten Morgen hatte Ebram die Szene schon wieder vergessen und als Traum abgetan. Abby benahm sich beim Frühstück wie immer, und er hatte keinen Grund zu glauben, dass es anders war.  
Sie marschierten weiter – Abby vorneweg diesmal und voller Elan. Selbst Bernard hatte Probleme, mitzuhalten. Immer wieder verschwand sie zwischen den Bäumen, um dann unvermittelt wieder aufzutauchen – lächelnd, mit einem Tannenzapfen oder einem Stein. Bernards Blick wurde skeptisch, und auch Ebram kam es seltsam vor, aber nichts deutete darauf hin, dass es gefährlich war. Irgendwann, als Abby wieder kurz verschwunden war, drehte sich Bernard zu Ebram. „Sie benutzt den Kompass nicht.“
„Was?“ Ebram verstand zuerst nicht.
„Sie benutzt den Kompass nicht mehr“, wiederholte Bernard eindringlich.
„Woher weiß sie aber, wo wir lang müssen?“, fragte Ebram langsam.
„Keine Ahnung, aber sie ist zielstrebig unterwegs – zu zielstrebig.“ Just in diesem Moment tauchte Abby wieder auf mit einem fröhlichen: „Hier lang, ich habe einen Unterschlupf entdeckt! Es wird dir gefallen, Ebram!“  
Die beiden Männer sahen sich kurz an, aber wenn sie Abby nicht verlieren wollten, mussten sie hinterher. Abby rannte förmlich zwischen den Bäumen durch auf einen Hügel zu. Dort war ein torgroßes Loch zu sehen, das in den Hügel hineinführte. „Hierher!“, rief Abby und verschwand in der Dunkelheit, doch Ebram wie auch Bernard beschlich ein mulmiges Gefühl. Jeder Schritt auf die gähnende Öffnung fühlte sich falsch an. Ihre Bewegungen wurden langsamer, vorsichtig – aber nichts passierte. Sie erreichten den Eingang und sahen in ein Gewölbe. Spärlich beleuchtet, mit von Abby aufgewirbelten Staubflusen, die im Licht tanzten.
„Gefällt mir nicht“, murmelte Bernard.
„Mir auch nicht“, bestätigte Ebram. Aber sie folgten widerwillig und schleppend – jeder Schritt kostete sie Überwindung, während Abby in der Dunkelheit vergnügt lachte: „Hier drüben!“

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