Aufgestaute Gefühle
Trauer, ein Fremdwort
Ich komme erst heute dazu, die Ereignisse der letzten Tage niederzuschreiben, da viel Aufregung im Camp herrschte. Als Bernard und ich vom Fundort des LKWs wegfuhren, hielt er nach ungefähr einem halben Kilometer an und starrte geradeaus. Ich befürchtete schon, dass noch mehr Bäume die Straße blockierten, und folgte seinem Blick, aber da war nichts. Als ich ihn ansprach, antwortete er, ohne den Kopf zu wenden. Er verstand nicht, wieso wir so berechnend sein können. Seiner Meinung nach hätten wir schockiert sein müssen, wahnsinnig vor Angst und voller irrationaler Handlungen. Ich ließ mir seine Worte durch den Kopf gehen und antwortete mit dem Logischsten, was mir einfiel: Wir Menschen wollen überleben, und nur wenn kein Ausweg bleibt, erlaubt uns unser Geist die Flucht in Wahnsinn, Schockzustände oder irrationale Angst. Solange wir aber noch einen Hoffnungsschimmer sehen, wird der Überlebenswille uns an die Leine nehmen und führen. Nach meinen Worten drehte er den Kopf doch zu mir und sah mich an. In seinen Augen stand Verzweiflung, und ich fragte mich im Stillen, ob er eine Familie außerhalb des Waldes hatte – Frau und Kinder? Ich hoffte nicht. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, als er mich so ansah, und habe, so glaube ich, ein sehr verzerrtes Lächeln aufgesetzt – wenig glaubhaft vermutlich, weil er den Blick wieder nach vorne richtete.
Ich wollte ihm Hoffnung geben, denn mir wurde bewusst, dass ich allein nicht so stark bin wie mit ihm zusammen. Das würde ich allerdings ihm gegenüber nicht zugeben. Er ist eine Autoritätsperson gegenüber den Arbeitern, sie respektieren ihn und vertrauen ihm – das kann ich von mir nicht behaupten. Wenn er nicht standhaft bliebe, würde alles auseinanderbrechen. Ich legte ihm eine Hand auf die Schulter, um ihm Zuversicht zu vermitteln, und merkte, dass er sich versteifte. Also zog ich die Hand wieder zurück. Ich war noch nie in einer solchen Lage gewesen. Körperliche Nähe schien nicht angebracht zu sein – das wäre anders gewesen, wenn er eine Frau wäre –, aber selbst das ist ungewohnt für mich. Ich war immer allein, habe alles mit eigener Kraft geschafft. Ich habe mein Elternhaus verlassen, um aus der Arbeiterwelt zu entkommen, habe studiert und bin aufgestiegen in den Rängen der Wissenschaft – ich hatte keine Zeit für menschliche Beziehungen. Rückblickend betrachtet muss ich gestehen, dass ich nie einen Kameraden hatte, einen besten Freund, wenn man es so ausdrücken will. Ich habe auch bisher nie einen benötigt. Alle anderen waren immer Konkurrenz. Bernard jedoch ist kein Wissenschaftler, er ist keine Konkurrenz, und ich schätze ihn auf eine mir nicht ganz begreifbare Art und Weise. Also starrten wir beide ins Leere.
Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, aber irgendwann lösten sich seine verkrampften Finger vom Lenkrad, und er lehnte sich zurück, den Kopf leicht in den Nacken gelegt. Ich wandte mich zu ihm um, unsicher, was nun kommen würde. Er legte sich beide Hände aufs Gesicht und zog sie langsam über die Wangen hinunter zum Kinn, so als wollte er damit etwas abstreifen. Anders kann ich es nicht erklären. Und dann schmiedeten wir einen Plan. Ach, das hört sich so lächerlich an, aber es ist dennoch genau so gewesen. Wir mussten uns abstimmen, keiner durfte etwas vor den Arbeitern oder Assistenten sagen, das falsch aufgefasst werden könnte. Wie bringt man 50 Menschen nahe, dass sich plötzlich der Wald gegen einen verschworen hat und sogar in der Lage scheint, aktiv Menschen zu töten?
Unser Plan war letztendlich recht simpel: Wir würden alle – ausnahmslos – am nächsten Tag einen Fußmarsch zur neuen Waldgrenze unternehmen. Einige hartgesottene Arbeiter würden mit Bernard vorfahren und die Leichen bergen sowie den LKW aus den Bäumen schneiden – sofern der Wald das zuließ. Wenn der Wald aggressiv werden sollte, dann wäre oberste Priorität der Rückzug. Die Männer, die sich um die Leichen kümmern, sollten danach auch dafür sorgen, dass niemand unbedarft oder auch voller Panik davonläuft. Ja, wir müssen in Betracht ziehen, die Menschen wie Gefangene zu behandeln. Das gefällt mir nicht, aber sollte es nötig sein, werden wir es tun. Gut, ehrlicherweise muss ich sagen, dass dies der Standpunkt von Bernard ist und ich ihn übernommen habe. Mir ist egal, ob Einzelne fliehen, aber Bernard hat ein sehr weiches Herz, wie es scheint, und was noch herausragender ist: Er scheint wirklich jeden Arbeiter zu kennen. Das macht es für ihn natürlich persönlich und dadurch kompliziert.
Wenn alle sich von der Lage überzeugt haben, bringen wir die Leichen ins Lager und werden sie feierlich begraben. Das ist auch Bernards Idee gewesen. Sein Blick, als ich meinte, dass eine Zeremonie zu viel Aufwand ist, hat mich doch etwas verlegen gemacht. Ich habe tatsächlich versucht, mich rauszureden mit Erklärungen wie: „Ich habe keine persönliche Bindung zu den Verstorbenen, das ist natürlich bei den Arbeitskollegen etwas ganz anderes.“
Ich bin mir nicht sicher, ob er es mir geglaubt hat, aber neutral betrachtet stimmt es sogar – abgesehen von Matthei.
Nachdem unser Plan stand, startete er den Motor wieder und fuhr los. Wir waren uns einig darüber, dass er reden sollte und ich nur als Expeditionsleiter seinen Worten Macht verleihen sollte. Das passte mir ziemlich gut, da ich ehrlich gesagt keine Ahnung habe, wie ich zu den Menschen sprechen soll. Einen Saal voller Wissenschaftler mit neuesten Erkenntnissen und Forschungsideen zu begeistern ist kein Problem, aber so etwas hier kann ich mir nicht vorstellen. Vermutlich würden sie mich gar nicht verstehen. Wir kamen im Lager an, und alles wirkte so normal. Menschen, die Schwerstarbeit leisteten, waren in der Ferne zu hören, einige Arbeiter brachten die in Stücke gesägten Baumstämme zum Sammelplatz für den Weitertransport, von der Küche wehte der Geruch von gebratenen Eiern herüber. Bernard und ich sahen uns gegenseitig an, so als fragten wir uns still, ob wir diesen Frieden tatsächlich brechen wollten. Dann aber stieg er mit ernster Miene aus und meinte, dass wir uns heute Abend, nach dem Essen, versammeln würden, um die Neuigkeiten zu verbreiten.
Die Zeit bis zum Abend verging für mich schleppend, und als es endlich so weit war, war ich sehr aufgekratzt. So nervös war ich nicht mal bei meiner Prüfung gewesen. Bernard holte mich ab, und wir gingen gemeinsam auf die Mitte des Camps zu. Dort hatten sich schon alle versammelt und warteten nur noch auf uns. Bernard hatte ringsherum Fackeln aufstellen lassen, damit der Platz gut beleuchtet war. Augenscheinlich wussten schon einige Bescheid, denn sie standen wie Wachen um ein kleines quadratisches Podest herum, das wir bestiegen. Das erschien mir überflüssig. Die Menschen ringsherum murmelten verhalten, selbst ich konnte in ihren Augen und Gesten Verunsicherung lesen.
Bernard verschwendete die Zeit nicht mit einer Einleitung, wie ich es getan hätte, sondern sagte in sehr kurzen, knappen Sätzen, was Sache war. Die erste Reaktion war Gelächter. Als er aber nicht mitlachte, verstummten die meisten. Es gab Zwischenrufe mit Fragen wie „Das ist ein Scherz, oder?“ und „Warum schneiden wir uns nicht wieder den Rückweg frei?“. Bernards Antworten waren so pragmatisch, wie ich ihn schätzen gelernt habe, und sie nahmen vielen Fragen den Wind aus den Segeln. Als die Frage aufkam, was man nun tun sollte, wurde es heikel. Bernard berichtete von den Forschern, die zurückgekehrt waren, und meiner Vermutung, dass in der Stadt die Lösung des Problems sei. Womit ich nicht gerechnet hatte, war, dass man mir plötzlich die Schuld an der Situation gab. Jemand warf mir sogar einen Schuh an den Kopf, und die Menge tobte, aufgeputscht wie ein Mob. Jetzt verstand ich die Wachen und war dankbar dafür.
Während ich mir den Kopf hielt und versuchte, wieder aufzustehen, schaffte es Bernard mit seinen Wachen irgendwie, die Meute zu beruhigen. Er teilte mit, dass wir die Toten bergen und beerdigen würden. Dass jeder, der wollte, natürlich im Lager bleiben durfte, wenn wir uns weiter zur Stadt aufmachten, aber auch, dass jeder willkommen sei, uns zu begleiten und zu unterstützen. Er hielt fast schon eine pathetische Rede von Gemeinschaftlichkeit, Arbeiten Hand in Hand usw. … Ich habe nur Bruchteile davon mitbekommen, der Schuh war mit Metall verstärkt gewesen. Summa summarum: Die Menschen beruhigten sich und gingen letztendlich friedlich in ihre Zelte zurück.
Bernard half mir danach hoch und begutachtete meine Platzwunde am Kopf. Er nahm mich mit in die Küche, was mich sehr verwunderte, und stellte mich vor Abby ab. Ich hatte das Gefühl, dass die beiden sich wohl besser kennen, da sie sich auf einer persönlichen Ebene unterhielten, die nicht gang und gäbe ist. Sie spricht ihn mit Vornamen an. Auch wenn sie ein sehr dreistes, aufdringliches und unhöfliches Weibsbild ist, muss ich ihr eines lassen: Sie ist eine geschickte Krankenschwester. Sie scheint eine medizinische Grundausbildung gehabt zu haben, denn sie konnte die Platzwunde versorgen und nähen.
Bernard begleitete mich auch in mein Zelt zurück, wohl um sicherzugehen, dass nicht noch ein Angriff auf mich verübt wird. Diese Nacht schlief ich sehr unruhig.
Am nächsten Morgen nach dem Frühstück brach das ganze Camp auf. Bernard fuhr mit seinen Vertrauten zum LKW, der Rest marschierte die zwei Kilometer zu Fuß. Als wir an der neuen Grenze ankamen, waren die Reaktionen bunt gemischt. Der aufgespießte Wagen und die Leichen waren am Boden und wirkten nun nicht mehr ganz so surreal. Bernard hatte am Abend zuvor nur von einem Unfall geredet, Details hatte er keine genannt – was sich als sehr hilfreich erwiesen hatte. Dennoch gab es zwei Männer, die plötzlich losrannten und versuchten, zwischen die Bäume zu gelangen. Was dann geschah, machte fast unsere ganze Vorarbeit zunichte.
Die Wachen reagierten zu langsam, und einem der beiden flüchtenden Männer gelang es, weiter zu laufen – doch nicht lange. Er betrat einen Bereich, der sich schon seit unserer Ankunft langsam mit Nebel füllte. Danach ging alles sehr schnell. Aus den Bäumen schossen Wurzeln oder Tentakeläste von allen Seiten, die ihn regelrecht aufspießten, hochhoben und wie ein Mahnmal in der Luft hängen ließen. Nun hatte ich es gesehen – es ging schnell, Gott sei Dank.
Die Menschen ringsherum reagierten unterschiedlich: Schock, Panik, Erbrechen, sogar Weinen konnte ich beobachten. Ich selbst fühlte wieder dieses Kribbeln. Meine Neugierde war erwacht. Ich muss unbedingt herausfinden, warum der Wald zu so etwas in der Lage ist.
Wie dem auch sei, Bernard und seine Leute drängten die Menschen wieder zurück, weg vom Ort des Geschehens – und ja, es hatte schon etwas von „Gefangene zurück ins Lager eskortieren“. Bernard holte die neue Leiche von ihrem präsenten Platz, ohne eine gewisse Grenze zu überschreiten. Sie hatten Seile mit Haken oder Ähnlichem, mit dem sie die Leiche zu sich zogen. Ganz genau konnte ich es nicht sehen.
Der Marsch zurück war von Trauer und bedrücktem Schweigen erfüllt. Ich musste an mich halten, um ebenfalls eine betrübte Miene zur Schau zu stellen – wollte ich nicht auffallen. Aber ehrlich gesagt haben mich die Toten nicht wirklich berührt. Mag sein, dass ich kaltherzig bin, mag sein, dass es anders wäre, wenn ich die Leute besser gekannt hätte, aber dem ist nicht so.
Im Lager angekommen, bereiteten wir alles für die Begräbniszeremonie vor. Auch hier bin ich froh, dass Bernard das in die Hand genommen hat. Ich glaube, seine Rede für die Verstorbenen, das Gedenken usw., hat viele berührt. Ich habe nur daneben gestanden und gewichtig mit dem Kopf genickt. Ehrlich gesagt weiß ich jetzt gar nicht mehr, was er alles gesagt hat – solche Reden sind nur Schall und Rauch. Die Zeremonie hat über eineinhalb Stunden gedauert. Jeder Tote wurde feierlich bestattet, man trat an das Grab heran und warf eine Blume, einen Schnipsel Papier mit Worten des Gedenkens auf den grob zusammengezimmerten Sarg oder etwas Erde. Natürlich habe ich mich eingereiht. Aber ich war froh, als das ganze Brimborium endlich fertig war. Nun denn, den Leuten scheint es geholfen zu haben, Abschied zu nehmen.
Nachdem alles vorbei war, auch der Leichenschmaus – eine Sache, die ich nie verstehen werde –, fand ich Bernard am Rande des Camps auf den Baumstämmen sitzend und in die Ferne schauend. Ich überlegte mir, ob ich ihn in Ruhe lassen sollte, aber irgendwie habe ich mich nicht dazu durchringen können. Also erkletterte ich ungeschickt die Baumstämme und setzte mich neben ihn. Er sah kurz zu mir, und ich erkannte, dass er tatsächlich geweint hatte. Ein sehr verstörender Anblick. Er lächelte schief und meinte, dass Weinen durchaus befreiend sein kann.
Ich fragte ihn, ob er darauf irgendeine Handlung von mir erwarte, und insgeheim hoffte ich schon irgendwie, dass ich etwas hätte tun können – und vor allem, dass er es sagte. Aber er schüttelte nur müde den Kopf und richtete seinen Blick wieder in die Weite. Ich glaube, wir haben mindestens eine halbe Stunde still nebeneinander gesessen. Es war auf eine sehr besondere Art und Weise angenehm. Als ich ihn irgendwann ansprach, unterbrach er mich und meinte, dass wir jetzt so viel erlebt hätten, dass Vornamen „okay“ wären, und reichte mir die Hand. Ich nahm sie gerne und schüttelte sie fest.
Danach stand er auf und half mir hoch. Er kletterte nach unten und half mir anschließend ebenfalls, sicher herunterzukommen. Wir standen zwischen Wald und den gelagerten Baumstämmen, das Licht der Fackeln reichte nicht bis hierher. Ich weiß nicht, was da war, aber seine Hand hielt meine Hand einen Tick zu lang, und mir selbst wurde es flau im Magen. Dann ließ er mich abrupt los und wünschte mir eine angenehme Nacht. Ich blieb noch eine Weile stehen, völlig verwirrt von diesem kurzen Augenblick.
Ich kenne das Phänomen, dass Männer sich zueinander hingezogen fühlen können, besonders in schwierigen Situationen, die Vertrauen und Kameradschaft brauchen. Aber ich habe mich selbst nie zu so einem Menschen gezählt. Bisher war die Vorstellung, einer Person gleichen Geschlechts näherzukommen, surreal für mich – ja, eigentlich eher widerlich. Gut, Frauen konnte ich bisher auch nichts abgewinnen, aber das steht auf einem anderen Blatt. Sicherlich ist es den momentanen Ereignissen geschuldet, dass Bernard und ich uns näherkommen. Wir müssen uns aufeinander verlassen können.
Ich bin nicht homosexuell veranlagt – auch nicht platonisch!


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