Aufgespießte Flügel

Freigegeben und gefallen

Mit dem Blick starr auf die Szenerie gerichtet, sagte im ersten Moment keiner der beiden ein Wort. Hollwarts Augen huschten hin und her, versuchten zu begreifen, wie es möglich war, dass der LKW mehrere Meter über ihnen in den Ästen hing – durchbohrt, ja geradezu aufgespießt. Er versuchte, physikalisch nachzuvollziehen, wie schnell es gegangen sein musste, damit Tomasch keine Chance mehr zur Flucht blieb. Gleichzeitig wollte sein Verstand dieses Bild nicht wahrhaben, sodass er immer wieder den Blick abwandte – nur um festzustellen, dass sich beim erneuten Hinsehen nichts verändert hatte.   Ebram hingegen zeigte nach dem kurzen Erstarren und Schrecken eine ihm selbst fremde Neugier an der Szene. Er begann zu begreifen, dass hier eindeutig Mächte am Werk waren, die aus längst vergangenen Zeiten stammten – und an die er bis zu diesem Moment nicht im Geringsten geglaubt hatte. Allerdings war ihm bewusst, dass es in jeder Epoche Dinge gab, die damals unerklärlich waren, heute jedoch entschlüsselt und damit aller Magie beraubt wurden. Vielleicht war das auch hier der Fall. Vielleicht gab es eine Erklärung, die nur noch nicht bekannt war – oder er war wahnsinnig geworden. Auch das schien ihm plausibel. Nüchtern betrachtet, so schoss es ihm durch den Kopf, war das sogar die logischste Erklärung.   Er sah zu Hollwart und registrierte dessen verzweifelte Versuche, das Gesehene zu begreifen. „Herr Hollwart?“ – „Ja?“, kam es zögerlich und abwesend. „Herr Hollwart, bitte – lassen Sie uns das genauer betrachten.“ – „Bitte was? Sie wollen dorthin?“ Er deutete auf den LKW mit einem Gesichtsausdruck, der Ebram gerade bescheinigte, vollkommen verrückt geworden zu sein. „Ja. Ich möchte es mir ansehen, mich davon überzeugen, dass es keine Halluzination ist. Dass es tatsächlich existiert. Außerdem sollten wir die Leiche bergen – meinen Sie nicht?“, erklärte Ebram fast schon vergnügt. Er gefiel sich in der Vorstellung, wahnsinnig zu sein. Es hatte etwas Elektrisierendes, und es machte jeden Erklärungsversuch plötzlich sehr einfach.   Der Vorarbeiter griff nach Ebrams Schulter, als dieser Anstalten machte, sich dem Ort des Geschehens zu nähern. „Sie meinen das tatsächlich ernst, oder? Was ist, wenn die Bäume uns angreifen?“ Die letzten Worte klangen skeptisch, als glaube er selbst nicht daran. Ebram sah Hollwart offen an, dann auf die Hand auf seiner Schulter, die unter seinem Blick hastig zurückgezogen wurde. Ebram verspürte einen leisen Stich, schob ihn aber beiseite. „Ja, ich meine es ernst. Vielleicht unterliegen wir beide einer Wahnvorstellung. Vielleicht ist das hier nicht real, sondern nur ein Traum. Oder eventuell haben wir etwas zu uns genommen, das uns halluzinieren lässt. Ich weiß es nicht – aber ich will mich überzeugen, es anfassen und vielleicht aufwachen. Sollte es real sein, dann wird es dafür eine Erklärung geben, und ich bin gewillt, diese Erklärung zu finden, damit…“ Er überlegte kurz und beschloss, ehrlich zu sein. „…damit ich diese Entdeckung für mich verbuchen kann. Aber auch, damit so etwas nicht wieder geschieht.“  
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  Bevor Hollwart sich bereit erklärte mitzugehen, ging er noch einmal zum Auto zurück und holte unter dem Sitz eine schwere Armeepistole hervor. Er lud den Trommelrevolver neu, sah in den Lauf, bevor er die Waffe einrasten ließ. Dann steckte er sich mehrere Kugelaufsätze ein, die ein schnelles Nachladen ermöglichten, und ignorierte Ebrams skeptischen Blick geflissentlich. Ebram nahm an, dass er die Waffe brauchte, um sich sicherer zu fühlen. Hollwart ließ auch nicht den Doktor vorgehen, sondern schob ihn bestimmend hinter sich. „Herr Hollwart, seien Sie sich gewiss, dass ich mich durchaus zu verteidigen weiß. In meiner Studienzeit war ich ein ausgezeichneter Fechter und ein passabler Ringer.“   Beinahe wäre er auf den Vorarbeiter aufgelaufen, als dieser abrupt stehen blieb und sich umdrehte. „Wollen Sie wirklich mit einem Baum ringen oder ohne Fechtwaffe fechten?“, fragte er, die Pistole gesenkt. Etwas peinlich berührt, aber irgendwie genötigt zu reagieren, sah Ebram auf den Revolver. „Und glauben Sie, dass Bäume Herz, Lunge oder Gehirn haben, die man mit einer Kugel durchlöchern kann?“ – „Immerhin habe ich eine Waffe, die auch an Bäumen Schaden anrichten kann. Ob es gravierender Schaden ist, werden wir eventuell feststellen. Lieber wäre es mir allerdings, wenn dem nicht so wäre.“   Ohne weiter darauf einzugehen, schritten beide Männer zwischen den ersten Bäumen äußerst vorsichtig hindurch – bereit, jederzeit irgendetwas zu tun. Aber es geschah nichts. Die Bäume zeigten keinerlei Regung, und auch ihre Äste bewegten sich nicht unnatürlich. Sie kamen nur langsam voran, da sie sich ständig wachsam umsahen. Alles war plötzlich potenziell gefährlich – der Boden, die Bäume, die Äste über ihnen. Nach zwanzig nervenaufreibenden Minuten erreichten sie den LKW, der knapp drei Meter über ihnen im Astwerk hing. Hollwart legte den Kopf in den Nacken. „Bären hängen ihre Beute auch manchmal ins Geäst“, meinte er nachdenklich. Ebram hatte sich in die Hocke begeben und betrachtete die eingetrocknete Blutlache auf den Nadeln. „Wüsste nicht, dass Bären Metall mögen.“ Er richtete sich auf und zeigte Hollwart ein paar der spitzen, blutgetränkten Blätter. „Es muss gestern geschehen sein. Das Blut ist trocken und teilweise abgewaschen vom morgendlichen Tau und Nebel.“   Hollwart blähte die Nasenflügel in einem kurzen Schnauben auf und schüttelte den Kopf. „Ich frage mich, ob wir es verhindert hätten, wenn wir gestern schon nach ihnen gesucht hätten.“ Ebram stellte sich neben ihn und sah nun ebenfalls nach oben. „Ich frage mich eher, wo die anderen Mitfahrer sind.“ – „Das habe ich mich auch schon gefragt“, sagte Hollwart nachdenklich und ließ den Blick weitläufig über das Gelände schweifen. „Und? Glauben Sie, dass es ein Traum ist oder eine Halluzination?“, fragte er fast beiläufig.  
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  Nachdem kein Baum und auch kein Ast Anstalten machte, sie anzugreifen, versuchten sie, eine Möglichkeit zu finden, wie sie Tomasch bergen könnten. Doch es wurde ihnen schnell klar, dass sie ohne geeignete Ausrüstung keine Chance hatten, die Leiche zu befreien. Hollwart drückte Ebram plötzlich die Waffe in die Hand. „Können Sie damit umgehen?“ Erstaunt sah Ebram den Revolver in seiner Hand an. „Ähm, ja – ich verstehe das grundlegende Prinzip einer Pistole.“ – „Gut. Dann halten Sie hier Wache, und ich klettere hoch zum LKW“, meinte Hollwart und zog dabei seine Jacke aus.   Ebram war noch etwas perplex, als Hollwart bereits nach den ersten Ästen griff, um sich hochzuziehen. Er stellte sich unter den Baum und schwenkte die Waffe seinem Blick folgend hin und her. „Sind Sie sicher, dass das nötig ist?“, rief er zweifelnd nach oben. „Ja. Vielleicht sind die anderen noch drin“, schallte es herab.   Während der Vorarbeiter sich weiter nach oben hangelte, wurde Ebram doch mulmig zumute. In direkter Gegenwart Hollwarts fühlte er sich sicherer, als er bisher geglaubt hatte. Die Pistole in seiner Hand gab ihm nicht das geringste Gefühl von Sicherheit.   Bodennebel stieg auf – ein Zeichen für die bald hereinbrechende Dunkelheit. Gerade wollte er zu Hollwart hochrufen, dass es Zeit sei, ins Lager zurückzukehren, als er stutzte. Sie waren kurz nach Mittag losgefahren. Die Fahrt selbst hatte kaum fünfzehn Minuten gedauert. Es konnte unmöglich schon Abend sein.   Leicht verunsichert rief er nach oben: „Haben Sie etwas gefunden? Ich würde es vorziehen, wenn Sie wieder herunterkämen.“ Er hörte, dass Hollwart versuchte, gewaltsam in das Fahrzeug zu gelangen. Das Metall quietschte unter seinem Rütteln. „Gleich – ich habe die Beifahrertür fast offen. Sie klemmt ein wenig.“ Erneutes Metallquietschen war zu hören. „Nun, hier unten steigt Nebel auf – was ungewöhnlich ist um diese Uhrzeit. Ich würde es wirklich begrüßen, wenn Sie mit dem Abstieg beginnen“, wiederholte Ebram seine Aufforderung mit etwas mehr Nachdruck. „Hat Sie die Neugierde verlassen, Doktor?“, kam es leicht spöttisch zurück. „Nein, hat sie nicht. Aber ich weiß nicht, ob eine Pistole eine nützliche Waffe gegen unnatürlichen Nebel ist!“, konterte Ebram.   Plötzlich krachte etwas neben ihm zu Boden – ein dumpfer, schwerer Aufschlag. Ebram erschrak, drückte den Abzug der Pistole und machte gleichzeitig einen Satz nach hinten. Der Schuss hallte durch den sonst so stillen Wald wie ein Fremdkörper. Ebram prallte gegen den Baumstamm in seinem Rücken, was ihn noch mehr erschreckte und zur Seite taumeln ließ.   Hollwarts besorgte Stimme kam von oben: „Alles in Ordnung dort unten?“ Ebram strich sich nervös durchs Haar und richtete die Pistole auf das Ding am Boden. „Herrgott nochmal!“, entfuhr es ihm zittrig. „Was ist das?“ Ein Hauch von Panik schwang in der Frage mit. „Das ist Herr Matthei. Oder das, was von ihm übrig ist. Tut mir leid, dass ich Sie nicht vorgewarnt habe – ich habe zu spät bemerkt, dass er abgerutscht ist.“   Langsam näherte sich Ebram dem Körper, der teilweise vom Nebel verdeckt wurde. Er stupste ihn mit dem Fuß an. „DAS ist Herr Matthei?“ – „Korrekt. Und die anderen sind auch noch hier oben. Der Anblick ist…“ Hollwart stockte kurz. „…kennen Sie Schmetterlingssammler?“   Sofort schob sich vor Ebrams innerem Auge ein Bild menschlicher Leichen, fein säuberlich an Armen und Beinen aufgespießt. Darunter Schildchen mit Namen und anderen Daten der Person – akkurat beschriftet, wie in einem Museum.   Sein Blick fiel wieder auf Matthei, dessen leerer Blick und verrenkte Glieder schon erschreckend genug waren. Zusätzlich war er an mehreren Stellen von Ästen – oder waren es Wurzeln? – durchdrungen. Ebram hatte schon Leichen gesehen, auch untersucht. Aber das waren jahrhundertealte Körper gewesen: eingefallen, teilweise konserviert – zu abstrakt, um sie noch mit einem lebenden Menschen zu verbinden.   Matthei hingegen sah nicht aus wie eine Leiche. Er sah aus wie ein Mensch, dem etwas Schreckliches widerfahren war – und auf dessen Gesicht dieser Schrecken deutlich lesbar war.  
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  Hollwart machte sich daran, wieder nach unten zu klettern, während Ebram die Leiche von Matthei untersuchte. Seiner Vermutung nach war Matthei immerhin schnell gestorben – verhältnismäßig schnell, korrigierte er sich gedanklich, da er nicht wusste, ob die Äste gewachsen waren oder sich wie ein Speer bewegt hatten. Einer der Äste war direkt durch Mattheis Herz gedrungen; spätestens dann war der Tod in wenigen Sekunden eingetreten. Der Gedanke daran ließ Ebram schaudern und sich immer wieder nach den Bäumen ringsum umsehen, doch diese zeigten keinerlei Aggressivität. Der Nebel wurde dichter und stieg nun schon über die Knie.   Noch etwas außer Atem vom Klettern trat Hollwart neben ihn. „Nehmen wir ihn mit?“ Kopfschüttelnd verneinte Ebram: „So auf keinen Fall – das löst eine Panik aus.“ Er richtete sich wieder auf und spannte unbewusst den Kiefer an, während er nachdachte. „Was sagen wir den Arbeitern?“ – „Gute Frage. Ich weiß nicht, wie ich das hier erklären soll – ich habe keine Erklärung. Sie?“ Ebram schüttelte erneut den Kopf. „Nein. Nur eine Vermutung.“ Hellhörig geworden fragte Hollwart nach: „Vermutung?“ Sich einmal um die eigene Achse drehend, murmelte Ebram mehr, als dass er sprach: „Alle Forscher und Abenteurer müssen Ähnliches erlebt haben. Einige sind zurückgekehrt – aber nur diejenigen, die in der Stadt gewesen sind. Dort muss es einen Hinweis geben.“ Er sah zu Hollwart. „Können Sie das vermitteln, ohne dass eine Panik ausbricht? Der Rückweg ist vorerst versperrt, und ich würde nicht noch mehr Tote riskieren bei dem Versuch, über diesen Weg zurückzukehren.“   Leicht resigniert ob der Situation verzog Hollwart das Gesicht und nickte. „Die meisten werden vernünftig sein, aber es wird auch welche geben, die ihr Glück selbst versuchen möchten – oder uns nicht glauben.“ Ebram deutete auf den LKW. „Dann nehmen Sie die Zweifler mit hierher und bergen Sie die Leichen, damit sie ein anständiges Begräbnis bekommen. Das wird die Leute wachrütteln.“ Überzeugt war der Vorarbeiter nicht von der Idee, aber er widersprach nicht. „Das heißt, wir sind mehr oder weniger verloren – und unsere Hoffnung liegt in einer Ruinenstadt, von deren Existenz und Lage wir keinerlei Hinweise haben.“ Er schob die Unterlippe vor und murmelte kaum hörbar mehr zu sich selbst: „Wird ein Klacks, das den Leuten zu verklickern.“ Dann wieder etwas lauter: „Gut, Doktor, gehen wir zurück zum Wagen. Der Nebel steigt immer schneller, und ich will hier nicht so enden wie Matthei und die anderen.“
by Microsoft Copilot

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