Aufbruchstimmung

Der Ring

Ich beschäftige mich schon seit vielen Jahren mit der Geschichte dieser Stadt. Zu Beginn hatte ich nur von ihr gelesen – der Ruinenstadt inmitten eines wunderschönen Waldes. Als Geschichtsforscher wecken Ruinen immer einen gewissen Drang in mir, und da bin ich nicht der Einzige. Viele meiner Kollegen berichten von ähnlichen Gefühlen: Neugier, Aufbruchstimmung, Schmetterlinge im Bauch wie beim ersten Kuss – und andere Arten des Bedürfnisses, die Geheimnisse eines Ortes, eines Artefakts oder einer Person zu ergründen.   Der Name der Stadt im Wald ist schon lange verloren gegangen, die Geschichte ebenso. Das liegt unter anderem daran, dass dieser Wald sehr dicht und groß ist. Ausrüstung für Ausgrabungen dort hindurchzubringen ist ein immenser Verwaltungsakt für die forschende Einrichtung und logistisch ein geldfressendes Maul – ganz zu schweigen von Dingen wie Essen und Unterbringung.   Natürlich gibt es Pioniere, die sich wie heldenhafte Einzelkämpfer durch den Wald schlagen, mit nichts anderem bewaffnet als ihrem Mut und einem Rucksack mit den nötigsten Dingen für unterwegs. Interessanterweise gab es nur sehr wenige dieser Helden, die zurückgekehrt sind. Was noch interessanter ist: Von denjenigen, die zurückkamen, hat die eine Hälfte die Stadt nie gefunden, die andere Hälfte schweigt mehr oder weniger über das Erlebte.   Aber einer hat es gewagt, darüber zu sprechen – auf dem Sterbebett. Ein Chronist wurde einbestellt, um seine Worte festzuhalten. Das kleine Traktat, das daraus entstand, ist das erste und einzige schriftliche Zeugnis, das es von der Stadt im Wald gibt – und es liest sich, als hätte der Sterbende Fieberträume gehabt.   Die Kernaussage allerdings ist, dass diese Stadt ca. 3–4 km im Durchmesser groß ist. In der Mitte gibt es einen ringförmigen Mauerwall, der im Gegensatz zum Rest der Stadt erstaunlich gut erhalten geblieben ist. Die Gebäude um diese Mauer herum sind verfallen und vom Wald wieder in Besitz genommen worden. Dort finden sich Reste einer Zivilisation, die der unsrigen heute entspricht: Sie kannten das Feuer, das Zahnrad und konnten sich Dampf zunutze machen. Die Kultur jedoch war wesentlich primitiver. Sie glaubten wohl an Magie, gottähnliche Wesen und anderes Übernatürliches, da es sehr viele Tempelgebäude und Orte für rituelle Handlungen gibt.   Das kleine Büchlein beschreibt die Stadt außen recht bildlich – auch die Malereien, die noch erhalten sind, die Werkzeuge, die gefunden wurden, die unleserlichen Schriftzeichen an Wänden oder auf Keramik. Das Innere, also das, was hinter der Mauer liegt, wird jedoch mit keinem Wort beschrieben – nur Warnungen davor, den Ort zu betreten. Dabei wird nicht einmal gesagt, ob es überhaupt einen Eingang gibt.   Diese sehr vage Beschreibung, die Warnungen, der Reiz, der Erste zu sein, der den inneren Ring erkundet … all das hat schon fast zwei Generationen von Forschenden vor mir in diesen Wald getrieben – und teilweise nie wieder auftauchen lassen. Ich will nicht anmaßend klingen, aber die Technik ist weiter fortgeschritten, die Methoden der Forschung ebenso. Heutzutage ist es kein großes Problem, eine teure Expedition zu starten, wenn man einen Sponsor hat – wie zum Beispiel den Eisenbahnmogul Tergun Balei. Er ist ein herausragender Geschäftsmann, begeisterter Hobbyforscher und lebt gar nicht so weit von besagtem Wald entfernt. Er kennt die Geschichten, auch das besagte Traktat, und ist zudem an dem Holz des Waldes interessiert.   Wenn man überzeugend ist, charismatisch und mit profundem Fachwissen glänzen kann, dann lässt sich alles erreichen. Acht Jahre harte Überzeugungsarbeit hat es mich gekostet – beim königlichen Forstamt, der Universität, dem Mogul und verschiedenen anderen kleineren Parteien. Aber es hat sich ausgezahlt: Es wird eine Expedition geben – und ich werde deren Leiter sein.
by Microsoft Copilot

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