Alte Transportwege
Das Nestchen
Bernard hielt Ebram am Oberarm fest. „Warte, lass uns erst Licht machen!“
Er suchte in Ebrams Rucksack nach einer Laterne und entzündete mit einem Streichholz das Gas. Dann hob er die Laterne hoch über den Kopf und beleuchtete die Szenerie, indem er sich einmal im Kreis drehte. Was sie sahen, war kein Grab oder versunkenes Wohnhaus, sondern ein Bahngleis. Verwirrt sahen die beiden sich um.
„Was ist das hier?“
„Sieht aus wie ein Bahnsteig mit Gleis.“
Bernard leuchtete an der Kante ein Stück vor ihnen herunter – dort waren tatsächlich Schienen. Schmaler, als sie es kannten, aber eindeutig Schienen. Es gab hier auch Sitzbänke und einen komischen Kasten, auf dem seltsame Zeichen standen.
Abby stand mitten auf den Gleisen und winkte ihnen zu. „Kommt! Sie führen uns in die Stadt!“ Dabei deutete sie auf die Schienen.
„Ich sagte doch, dass wir dich begeistern, Ebram!“
Sie verschwand im dunklen Tunnel.
Die beiden Männer sahen sich an und beeilten sich, ihr zu folgen. Bernard rief nach ihr: „Abby… Abby, warte auf uns!“
Ihr Lachen drang aus der Dunkelheit, ohne dass sie langsamer wurde.
Ebram stolperte hinter dem flackernden Licht und den großen Schritten von Bernard hinterher.
„Wie kann sie hier etwas sehen?“, fragte er keuchend.
„Keine Ahnung, aber sie ist verdammt schnell unterwegs.“
Dann kam eine Abzweigung – die Schienen kreuzten weitere Schienen.
Das Lachen von Abby drang von mehreren Seiten auf sie ein und wurde wieder zurückgeworfen.
„Wo lang?“, fragte Ebram ratlos.
„Verdammt, ich weiß es nicht!“, antwortete Bernard und kniete sich auf den Boden.
Er suchte nach Spuren, einem Hinweis, doch nichts ließ ihn erkennen, in welche Richtung Abby gegangen war.
Ebram nahm Bernard die Lampe ab und leuchtete in die Gänge.
„Wir haben drei Möglichkeiten: rechts, links oder geradeaus. Wo fangen wir an? Sie sehen alle gleich aus.“
„Rechts. Wir rufen sie, und wenn wir sie nicht mehr hören, dann war das der falsche Weg und wir gehen zurück.“
Nickend bestätigte Ebram und wandte sich in den Tunnel zu seiner Rechten.
Nach zehn Minuten hörten sie Abby nicht mehr und kehrten um.
An der Kreuzung angekommen, gingen sie in den nächsten Tunnel – aber Abby war verstummt.
Egal welchen Gang sie entlanggingen, sie hörten sie nicht mehr.
Bernard machte seiner Wut Luft, indem er mit der Faust gegen die Wände schlug und laut „Scheiße, Scheiße, Scheiße!“ rief und dann erneut Abbys Namen. Ebram hingegen grübelte die ganze Zeit intensiv und versuchte, das Problem rational anzugehen.
Als der große Mann sich kurzzeitig beruhigt hatte, trat er an ihn heran.
„Sie wollte, dass wir den Gleisen in die Stadt folgen – also tun wir das. Dort wird sie auf uns warten, bestimmt.“
„Und welches Gleis führt in die Stadt?“, fragte Bernard lauernd.
„Das weiß ich noch nicht, aber es wird an den Stationen doch so etwas wie einen Plan geben.“
„Kannst du den lesen?“
„Vermutlich nicht, aber vielleicht die Symbole, wenn es welche gibt.“
„Also gut, suchen wir die nächste Station.“
Er fuhr mit einem Finger die Linie nach, die von dem Punkt wegführte. „Dieser hier sollten wir folgen. Schau, sie führt zu einem großen Knotenpunkt, den viele Bahnen kreuzen. Nur wichtige, belebte Orte haben so große Knotenpunkte.“ Er tippte mehrmals darauf. „Wenn wir in die andere Richtung gehen“ – nun folgte er der Linie in die andere Richtung – „dann werden die Knotenpunkte kleiner. Das wird wohl eher außerhalb der Stadt sein.“ „Klingt logisch“, bestätigte Bernard. „Also, gehen wir den Weg zurück oder folgen wir den Gleisen weiterhin?“ Ebram rümpfte nachdenklich die Nase. „Lass uns nach weiteren Hinweisen suchen. Außerdem muss dieser Bahnsteig doch irgendwo hinführen, oder? Es muss einen Ausgang geben.“ Aber sie fanden keinen.
„Ebram, vielleicht war dieses Gleis nur zum Umsteigen gedacht“, stellte Bernard eine Theorie auf, und der Doktor grübelte kurz darüber nach. „Ja, könnte sein – aber schon irgendwie seltsam, oder?“ Sie suchten noch eine Weile, doch dann beschlossen sie, wieder den Gleisen zu folgen.
Der nächste Bahnsteig war fast dreißig Minuten zu Fuß entfernt. Sie kletterten wieder hoch und sahen sich um. Diesmal entdeckte Ebram den Streckenfahrplan und jubelte verhalten: „Wir sind auf dem richtigen Weg, schau!“ Bernard kam zu ihm und starrte auf den Fahrplan. Ebram deutete auf den hervorgehobenen Punkt. „Schau, hier waren wir vorhin, jetzt sind wir hier. Das heißt, wir folgen der grünen Bahnmarkierung weiter Richtung Stadt.“ Er sah zu Bernard auf und lächelte. „Dort werden wir Abby finden.“
Bernard nickte verhalten, was Ebram aufmerksam werden ließ. „Was ist los?“, fragte er. „Nichts, ich… hätte besser auf sie aufpassen sollen“, brach es aus Bernard heraus. „Abby ist erwachsen und kann auf sich aufpassen. Du konntest sie gar nicht aufhalten.“ „Ich hab’s nicht mal versucht.“ „Woher hättest du das auch wissen können, Bernard?“ Ebram legte eine Hand auf dessen Oberarm. „Keine Angst, Abby ist schlau und schlagfertig. Sie kommt auch ohne uns durch.“ Bernard nickte resigniert. „Vermutlich hast du recht. Ich komm mir gerade nur sehr nutzlos vor.“
Sechs Stationen lagen noch vor ihnen, und sie hatten keine Ahnung, wie lange sie dafür brauchen würden. Zudem war es anstrengend, die ganze Zeit mit hochgehaltener Laterne über die Gleise zu gehen. Zweimal mussten sie umkehren, da sie an einer Kreuzung die falsche Abzweigung genommen hatten, und so schafften sie gerade mal zwei weitere Stationen, bis die Müdigkeit ihnen zu schaffen machte.
Bernard hätte zwar noch locker eine weitere Station geschafft, aber Ebram nicht – also richteten sie sich auf einem Bahnsteig ein. Bernard zog Bänke zusammen und baute ihnen einen kleinen abgegrenzten Bereich. Ebram besah sich die Konstruktion. „Glaubst du, wir werden hier angegriffen?“ Er deutete auf die umgekippten Bänke als kleinen Wall. „Ich weiß es nicht, aber ich gehe auf Nummer sicher.“ Bernard zuckte mit den Schultern. „Außerdem habe ich das Gefühl, dass ich mehr zu unserem Schutz tun muss.“ Er zog die nächste Bank quietschend über den Boden.
Eingerahmt von den Bänken, beleuchtet von den Laternen, saßen die beiden Männer auf ihren Schlafsäcken und aßen gemeinsam. „Glaubst du, Abby ist verrückt geworden?“, fragte Bernard leise. „Nein, ich glaube, dass dieses Ding Kontrolle über sie hat. So wie über meinen Assistenten“, meinte Ebram kopfschüttelnd. „Ich frage mich nur, wie das funktioniert. Ich meine, keiner von uns beiden hört das Ding, oder?“ Er sah zu Bernard hinüber, der auch den Kopf schüttelte.
„Nein, ich höre gar nichts. Aber das hat angefangen – mit den Fingern. Glaubst du, da ist was passiert? Etwas, das wir übersehen haben?“ Ebram überlegte eine Weile schweigend, dann antwortete er zögerlich: „Nein, nein, ich glaube, sie hat schon vorher etwas gespürt oder gehört, aber es … weggesperrt?“ Er sah zu Bernard hinüber. „Vielleicht sind es diese Träume? Wie viele hast du davon gehabt?“ „Keinen einzigen“, war die knappe Antwort des Vorarbeiters. „Ich träume so gut wie nie.“ „Nie?“ Bernard nickte. „Ich glaube, der letzte Traum, an den ich mich erinnere, ist Jahre her.“
Sie richteten sich für die Nacht ein – zumindest glaubten sie, dass es Nacht war. Hier in der Dunkelheit des Bahnsteigs konnten sie sich dessen nicht sicher sein. Sie legten sich aneinander und versuchten einzuschlafen. Ebrams Gedanken waren bei Abby, und er fragte sich, ob sie in ihrem Wahnsinn noch Schlaf fand. Bernards Hand lag auf seinem Bauch und begann sich langsam zu bewegen, schob sich unter sein Hemd und lag warm auf seiner Haut. Ebram hielt die Luft an und versteifte sich unbewusst. Bernards Atem in seinem Nacken hatte sich verändert, und dann spürte er die warmen Lippen auf seinem Nacken. Es war ein schönes Gefühl, aber gleichzeitig so ungewohnt und verstörend, dass er sich nicht darauf einlassen konnte.
„Bernard“, kam es erstickt aus ihm hervor. Dieser hörte jedoch nicht auf, sondern drehte ihn sanft um und küsste ihn nur umso intensiver, verschloss die Lippen mit seinen. Zwischen zwei Küssen hielt Bernard inne. „Sag, was du willst, Ebram – aber bevor wir beide auch dem Wahnsinn anheimfallen, werden wir uns lieben.“
Später lagen beide nackt ineinander verschlungen und entspannt beieinander. Ebram war glücklich und konnte es noch immer nicht begreifen. Bernard seufzte wohlig und hielt Ebram fest im Arm, streichelte über seine Hüfte und grinste immer wieder zu ihm. Sie sprachen nicht, sondern genossen die Nähe, wollten diesen intimen und einzigartigen Moment nicht durch irgendetwas zerstören. Emotional aufgewühlt benötigte Ebram länger als Bernard, um einzuschlafen, und so beobachtete er den großen Mann, studierte ihn förmlich, während dieser längst eingeschlafen war. Erst lange Zeit danach gelang es auch Ebram, endlich zu schlafen.
Als Ebram erwachte, war Bernard schon eine Weile wach. Er hatte sich angezogen und ihm seine eigene Decke noch übergeworfen. Sich müde die Augen reibend, richtete sich der Doktor verschlafen auf und gähnte ausgiebig. Bernard lachte leise. „Guten Morgen, Ebram!“ „Guten Morgen“, kam zusammen mit einem ausgiebigen Strecken von Ebram. „Frühstück?“
Die beiden Männer aßen gemeinsam recht schweigsam, wobei sie immer wieder verstohlene Blicke tauschten und das Grinsen nicht aus ihrem Gesicht streichen konnten. Im Schein der Laternen wirkte es noch surrealer, als wenn sie im Sonnenlicht gesessen hätten. Als sie fertig waren, erhoben sich beide wortlos und packten zusammen. Sie brauchten keine Worte, denn sie hatten ein gemeinsames Ziel: Abby.
Die gemeinsame Nacht mit Bernard hatte in Ebram etwas verändert. Er konnte es nicht benennen, aber es fühlte sich gut an und wichtig. Es war, als wäre er komplett, vollständig – und als würde er erst jetzt begreifen, dass ihm schon immer etwas gefehlt hatte.
Er betrachtete Bernard und fragte sich, was dieser wohl empfand, denn mit Sicherheit war Ebram nicht seine erste Liebe. Vielleicht war es auch nur körperliche Zuneigung, aber Ebram hoffte, dass es mehr war. Für ihn war es mehr.
Seit dieser Nacht fand auch eine nonverbale Kommunikation zwischen ihnen statt, die es vorher nicht gegeben hatte. So, als würden sie ähnlich denken – was definitiv nicht der Fall war –, aber zumindest identische Ziele haben und damit auch Motivation und Handlungen in die gleiche Richtung gehen. Es war faszinierend und berauschend.
Trotz des Verlustes von Abby, der Sache im Lager, der Toten, fühlte sich Ebram so lebendig wie noch nie.
Die nächste Bahnstation hatte einen Ausgang, und sie traten gespannt nach draußen. Sie hatten Ruinen erwartet, Verfall und Pflanzen, die alles überwucherten – aber nichts davon traf zu.
Der Anblick, der sich ihnen bot, war atemberaubend, denn sie standen in einem Garten oder eher einem Park. Hier gab es kaum Tannen und Fichten, sondern Obstbäume, Ziersträucher und Blumenbeete. Überall summte und surrte es. Die ehemaligen Wege waren nur noch schwer zu erkennen, da sie überwuchert waren, aber dennoch war die einstige Struktur hinter den Pflanzungen noch sichtbar.
Als dieser Park noch gepflegt wurde, musste er ein wahres Idyll gewesen sein – und auch jetzt noch, trotz der vielen wild wachsenden Pflanzen, hatte er etwas Majestätisches an sich.
Bernards Augen leuchteten. „Essen!“ Er deutete auf die Obstbäume. Ebram folgte seinem Blick amüsiert. „Du denkst bei diesem Anblick tatsächlich nur ans Essen, oder?“ Bernard zuckte mit den Schultern und machte sich auf den Weg zu den Obstbäumen. Ebram folgte ihm mit einem Grinsen.
Sie sammelten so viel Obst, wie sie tragen konnten, und genossen kurz die Natur um sich herum, doch schon bald schlichen sich Unruhe und Gewissensbisse ein. Wieder, ohne große Worte zu gebrauchen, standen beide nach einer Weile auf.
„Zeit, weiterzugehen.“
„Ja, gehen wir.“ Sie waren sich einig.
Gemeinsam stiegen sie wieder auf die dunklen Gleise hinab und setzten den Weg fort. Drei weitere Stationen schafften sie, ehe der Abend anbrach. Alle Stationen hatten nun einen überirdischen Ausgang, und jetzt sahen sie auch die ersten Ruinen – überwuchert und verfallen.
An jeder Station riefen sie nach Abby, und als sie keine Antwort erhielten, zogen sie weiter. Ihr Lager schlugen sie im Freien auf, nahe der Station in einer eher kleinen Ruine. Die Bäume und Sträucher hatten hier fast schon eine natürliche Laube geschaffen und suggerierten ein Dach und Wände, auch wenn man bei genauerem Hinsehen hindurchsehen konnte.
Sie genossen die Nähe, aßen massenweise Obst und erkundeten weiter ihre gegenseitigen Vorlieben bis spät in die Nacht.
Am nächsten Morgen erwachten beide durch ein fröhliches: „Da seid ihr ja!“ Abby saß keine zwei Meter von ihnen entfernt kauernd auf dem Boden und stopfte sich Obst in den Mund. „Hübsches kleinesch Nestchen hobt ihr euch auschgesucht… wirklisch hübsch“, nuschelte sie und sah beide mit schiefgelegtem Kopf an – ohne auch nur ein einziges Mal zu blinzeln. Ebram und Bernard starrten sie einfach nur an.
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Sie folgten dem Gleis, auf dem sie gerade standen, und erreichten nach zwanzig Minuten einen Bahnsteig. Bernard zog sich ohne Mühe auf den erhöhten Boden und half Ebram, der seine liebe Mühe hatte. Sorgfältig beleuchteten sie die Wände auf der Suche nach Informationen.
Mittlerweile hatten sie beide eine Lampe entzündet und suchten unabhängig voneinander.
„Ebram! Ich glaube, hier ist so eine Art Plan!“
„Warte, ich komme!“
Mit schnellen Schritten war der Doktor bei Bernard, der ein gerahmtes Bild mit Linien, seltsamen Zeichen und Knotenpunkten aufwies. Das Bild war verwittert, und an einigen Stellen war fast nichts mehr erkennbar, aber es gab einen größeren Punkt, der markiert war.
Bernard deutete darauf. „Ich glaube, wir sind hier! Aber wohin müssen wir?“
Ebram besah sich die Linien. „Das ist ein Streckenplan. Wir müssen eine zweite Station finden, damit wir feststellen können, in welche Richtung wir laufen.“
Er fuhr mit einem Finger die Linie nach, die von dem Punkt wegführte. „Dieser hier sollten wir folgen. Schau, sie führt zu einem großen Knotenpunkt, den viele Bahnen kreuzen. Nur wichtige, belebte Orte haben so große Knotenpunkte.“ Er tippte mehrmals darauf. „Wenn wir in die andere Richtung gehen“ – nun folgte er der Linie in die andere Richtung – „dann werden die Knotenpunkte kleiner. Das wird wohl eher außerhalb der Stadt sein.“ „Klingt logisch“, bestätigte Bernard. „Also, gehen wir den Weg zurück oder folgen wir den Gleisen weiterhin?“ Ebram rümpfte nachdenklich die Nase. „Lass uns nach weiteren Hinweisen suchen. Außerdem muss dieser Bahnsteig doch irgendwo hinführen, oder? Es muss einen Ausgang geben.“ Aber sie fanden keinen.
„Ebram, vielleicht war dieses Gleis nur zum Umsteigen gedacht“, stellte Bernard eine Theorie auf, und der Doktor grübelte kurz darüber nach. „Ja, könnte sein – aber schon irgendwie seltsam, oder?“ Sie suchten noch eine Weile, doch dann beschlossen sie, wieder den Gleisen zu folgen.
Der nächste Bahnsteig war fast dreißig Minuten zu Fuß entfernt. Sie kletterten wieder hoch und sahen sich um. Diesmal entdeckte Ebram den Streckenfahrplan und jubelte verhalten: „Wir sind auf dem richtigen Weg, schau!“ Bernard kam zu ihm und starrte auf den Fahrplan. Ebram deutete auf den hervorgehobenen Punkt. „Schau, hier waren wir vorhin, jetzt sind wir hier. Das heißt, wir folgen der grünen Bahnmarkierung weiter Richtung Stadt.“ Er sah zu Bernard auf und lächelte. „Dort werden wir Abby finden.“
Bernard nickte verhalten, was Ebram aufmerksam werden ließ. „Was ist los?“, fragte er. „Nichts, ich… hätte besser auf sie aufpassen sollen“, brach es aus Bernard heraus. „Abby ist erwachsen und kann auf sich aufpassen. Du konntest sie gar nicht aufhalten.“ „Ich hab’s nicht mal versucht.“ „Woher hättest du das auch wissen können, Bernard?“ Ebram legte eine Hand auf dessen Oberarm. „Keine Angst, Abby ist schlau und schlagfertig. Sie kommt auch ohne uns durch.“ Bernard nickte resigniert. „Vermutlich hast du recht. Ich komm mir gerade nur sehr nutzlos vor.“
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Sechs Stationen lagen noch vor ihnen, und sie hatten keine Ahnung, wie lange sie dafür brauchen würden. Zudem war es anstrengend, die ganze Zeit mit hochgehaltener Laterne über die Gleise zu gehen. Zweimal mussten sie umkehren, da sie an einer Kreuzung die falsche Abzweigung genommen hatten, und so schafften sie gerade mal zwei weitere Stationen, bis die Müdigkeit ihnen zu schaffen machte.
Bernard hätte zwar noch locker eine weitere Station geschafft, aber Ebram nicht – also richteten sie sich auf einem Bahnsteig ein. Bernard zog Bänke zusammen und baute ihnen einen kleinen abgegrenzten Bereich. Ebram besah sich die Konstruktion. „Glaubst du, wir werden hier angegriffen?“ Er deutete auf die umgekippten Bänke als kleinen Wall. „Ich weiß es nicht, aber ich gehe auf Nummer sicher.“ Bernard zuckte mit den Schultern. „Außerdem habe ich das Gefühl, dass ich mehr zu unserem Schutz tun muss.“ Er zog die nächste Bank quietschend über den Boden.
Eingerahmt von den Bänken, beleuchtet von den Laternen, saßen die beiden Männer auf ihren Schlafsäcken und aßen gemeinsam. „Glaubst du, Abby ist verrückt geworden?“, fragte Bernard leise. „Nein, ich glaube, dass dieses Ding Kontrolle über sie hat. So wie über meinen Assistenten“, meinte Ebram kopfschüttelnd. „Ich frage mich nur, wie das funktioniert. Ich meine, keiner von uns beiden hört das Ding, oder?“ Er sah zu Bernard hinüber, der auch den Kopf schüttelte.
„Nein, ich höre gar nichts. Aber das hat angefangen – mit den Fingern. Glaubst du, da ist was passiert? Etwas, das wir übersehen haben?“ Ebram überlegte eine Weile schweigend, dann antwortete er zögerlich: „Nein, nein, ich glaube, sie hat schon vorher etwas gespürt oder gehört, aber es … weggesperrt?“ Er sah zu Bernard hinüber. „Vielleicht sind es diese Träume? Wie viele hast du davon gehabt?“ „Keinen einzigen“, war die knappe Antwort des Vorarbeiters. „Ich träume so gut wie nie.“ „Nie?“ Bernard nickte. „Ich glaube, der letzte Traum, an den ich mich erinnere, ist Jahre her.“
Sie richteten sich für die Nacht ein – zumindest glaubten sie, dass es Nacht war. Hier in der Dunkelheit des Bahnsteigs konnten sie sich dessen nicht sicher sein. Sie legten sich aneinander und versuchten einzuschlafen. Ebrams Gedanken waren bei Abby, und er fragte sich, ob sie in ihrem Wahnsinn noch Schlaf fand. Bernards Hand lag auf seinem Bauch und begann sich langsam zu bewegen, schob sich unter sein Hemd und lag warm auf seiner Haut. Ebram hielt die Luft an und versteifte sich unbewusst. Bernards Atem in seinem Nacken hatte sich verändert, und dann spürte er die warmen Lippen auf seinem Nacken. Es war ein schönes Gefühl, aber gleichzeitig so ungewohnt und verstörend, dass er sich nicht darauf einlassen konnte.
„Bernard“, kam es erstickt aus ihm hervor. Dieser hörte jedoch nicht auf, sondern drehte ihn sanft um und küsste ihn nur umso intensiver, verschloss die Lippen mit seinen. Zwischen zwei Küssen hielt Bernard inne. „Sag, was du willst, Ebram – aber bevor wir beide auch dem Wahnsinn anheimfallen, werden wir uns lieben.“
Später lagen beide nackt ineinander verschlungen und entspannt beieinander. Ebram war glücklich und konnte es noch immer nicht begreifen. Bernard seufzte wohlig und hielt Ebram fest im Arm, streichelte über seine Hüfte und grinste immer wieder zu ihm. Sie sprachen nicht, sondern genossen die Nähe, wollten diesen intimen und einzigartigen Moment nicht durch irgendetwas zerstören. Emotional aufgewühlt benötigte Ebram länger als Bernard, um einzuschlafen, und so beobachtete er den großen Mann, studierte ihn förmlich, während dieser längst eingeschlafen war. Erst lange Zeit danach gelang es auch Ebram, endlich zu schlafen.
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Als Ebram erwachte, war Bernard schon eine Weile wach. Er hatte sich angezogen und ihm seine eigene Decke noch übergeworfen. Sich müde die Augen reibend, richtete sich der Doktor verschlafen auf und gähnte ausgiebig. Bernard lachte leise. „Guten Morgen, Ebram!“ „Guten Morgen“, kam zusammen mit einem ausgiebigen Strecken von Ebram. „Frühstück?“
Die beiden Männer aßen gemeinsam recht schweigsam, wobei sie immer wieder verstohlene Blicke tauschten und das Grinsen nicht aus ihrem Gesicht streichen konnten. Im Schein der Laternen wirkte es noch surrealer, als wenn sie im Sonnenlicht gesessen hätten. Als sie fertig waren, erhoben sich beide wortlos und packten zusammen. Sie brauchten keine Worte, denn sie hatten ein gemeinsames Ziel: Abby.
Die gemeinsame Nacht mit Bernard hatte in Ebram etwas verändert. Er konnte es nicht benennen, aber es fühlte sich gut an und wichtig. Es war, als wäre er komplett, vollständig – und als würde er erst jetzt begreifen, dass ihm schon immer etwas gefehlt hatte.
Er betrachtete Bernard und fragte sich, was dieser wohl empfand, denn mit Sicherheit war Ebram nicht seine erste Liebe. Vielleicht war es auch nur körperliche Zuneigung, aber Ebram hoffte, dass es mehr war. Für ihn war es mehr.
Seit dieser Nacht fand auch eine nonverbale Kommunikation zwischen ihnen statt, die es vorher nicht gegeben hatte. So, als würden sie ähnlich denken – was definitiv nicht der Fall war –, aber zumindest identische Ziele haben und damit auch Motivation und Handlungen in die gleiche Richtung gehen. Es war faszinierend und berauschend.
Trotz des Verlustes von Abby, der Sache im Lager, der Toten, fühlte sich Ebram so lebendig wie noch nie.
Die nächste Bahnstation hatte einen Ausgang, und sie traten gespannt nach draußen. Sie hatten Ruinen erwartet, Verfall und Pflanzen, die alles überwucherten – aber nichts davon traf zu.
Der Anblick, der sich ihnen bot, war atemberaubend, denn sie standen in einem Garten oder eher einem Park. Hier gab es kaum Tannen und Fichten, sondern Obstbäume, Ziersträucher und Blumenbeete. Überall summte und surrte es. Die ehemaligen Wege waren nur noch schwer zu erkennen, da sie überwuchert waren, aber dennoch war die einstige Struktur hinter den Pflanzungen noch sichtbar.
Als dieser Park noch gepflegt wurde, musste er ein wahres Idyll gewesen sein – und auch jetzt noch, trotz der vielen wild wachsenden Pflanzen, hatte er etwas Majestätisches an sich.
Bernards Augen leuchteten. „Essen!“ Er deutete auf die Obstbäume. Ebram folgte seinem Blick amüsiert. „Du denkst bei diesem Anblick tatsächlich nur ans Essen, oder?“ Bernard zuckte mit den Schultern und machte sich auf den Weg zu den Obstbäumen. Ebram folgte ihm mit einem Grinsen.
<<<::::------::::>>>
Sie sammelten so viel Obst, wie sie tragen konnten, und genossen kurz die Natur um sich herum, doch schon bald schlichen sich Unruhe und Gewissensbisse ein. Wieder, ohne große Worte zu gebrauchen, standen beide nach einer Weile auf.
„Zeit, weiterzugehen.“
„Ja, gehen wir.“ Sie waren sich einig.
Gemeinsam stiegen sie wieder auf die dunklen Gleise hinab und setzten den Weg fort. Drei weitere Stationen schafften sie, ehe der Abend anbrach. Alle Stationen hatten nun einen überirdischen Ausgang, und jetzt sahen sie auch die ersten Ruinen – überwuchert und verfallen.
An jeder Station riefen sie nach Abby, und als sie keine Antwort erhielten, zogen sie weiter. Ihr Lager schlugen sie im Freien auf, nahe der Station in einer eher kleinen Ruine. Die Bäume und Sträucher hatten hier fast schon eine natürliche Laube geschaffen und suggerierten ein Dach und Wände, auch wenn man bei genauerem Hinsehen hindurchsehen konnte.
Sie genossen die Nähe, aßen massenweise Obst und erkundeten weiter ihre gegenseitigen Vorlieben bis spät in die Nacht.
Am nächsten Morgen erwachten beide durch ein fröhliches: „Da seid ihr ja!“ Abby saß keine zwei Meter von ihnen entfernt kauernd auf dem Boden und stopfte sich Obst in den Mund. „Hübsches kleinesch Nestchen hobt ihr euch auschgesucht… wirklisch hübsch“, nuschelte sie und sah beide mit schiefgelegtem Kopf an – ohne auch nur ein einziges Mal zu blinzeln. Ebram und Bernard starrten sie einfach nur an.


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