Abbys Warnung

Feinde, die nicht schlafen

Es brauchte eine geraume Weile, bis die beiden Männer sich von ihrer Sprachlosigkeit und Starre erholten. Verstohlen warfen sie sich immer wieder fragende Blicke zu, während sie zusammenpackten, und verständigten sich mit lautlos angedeuteten Worten und Gesten. „Ist sie es?“ – Schulterzucken. „Unheimlich!“ – Nicken. Bis Abbys laute Stimme dazwischenfunkte, in einem fast schon lauernd-beschwörenden Tonfall: „Ich sehe euch. Ich höre euch. Ihr braucht keine Angst vor mir zu haben. Ich bin nicht euer Feind, ich bin Abby! Eure … Freundin.“   Allein dieser Ausbruch jagte Ebram einen Schauer des Ekels über den Rücken, und er konnte ein Schütteln nicht unterdrücken. Bernard legte ihm sanft eine Hand auf die Schulter und drückte leicht zu, um ihm zu zeigen, dass er nicht allein war. Schon früher war Abbys Mundwerk ab und an mit ihr durchgegangen, aber als sie diese Szene sah, kicherte sie: „Ah, klein Abby wird ausgegrenzt. Klein-Abby gehört nicht mehr zum Club. Dabei habe ich den Eingang zur Stadt gefunden! Das hier sind nur Vororte. Ich kann es euch zeigen. Es ist wunderschön, wirklich!“ Mit ein paar Schritten trat sie zwischen die beiden, drängte sich in die schmale Lücke wie ein großer Hund und sah beide Männer an, als wollte sie gestreichelt oder getätschelt werden.   Irritiert sah Ebram auf die junge Frau herab, die ihn so freudestrahlend und ohne zu blinzeln anlächelte. Bernard indes streckte tatsächlich seine Hand aus und strich ihr über den Kopf. „Wu...underbar, Abby. Das ist toll!“, sagte er und sah zu Ebram. „Oder?“ Ebram beobachtete Abby, die nun kurz die Augen schloss und sehr zufrieden wirkte. Doch sobald Bernard aufhörte, sie zu tätscheln, öffnete sie die Augen sofort wieder. Bernard stupste ihn mit dem Ellenbogen an, und Ebram räusperte sich. „Ahm... ja. Wirklich fein gemacht, Abby!“ Er tätschelte sie nun ebenfalls zögerlich. Erneut gingen ihre Augen zufrieden zu. Ebram formte mit den Lippen lautlos das Wort „Augen“, und Bernard nickte ihm zu – er hatte es bemerkt.  
<<<::::------::::>>>
  Sie stellten fest, dass Abby jedes Mal genussvoll die Augen schloss, wenn man sie freundlich tätschelte oder ihr über den Kopf strich. Man musste nicht einmal etwas Lobendes oder Positives sagen – die Berührung allein genügte. Nach etwas mehr als zehn Minuten hatten sie alles zusammengepackt und waren bereit für den Aufbruch. Abby wirkte aufgeregt und schlich mehrfach um die Männer herum, während diese sich gegenseitig die Rucksäcke überprüften und dabei auch die Umgebung sondierten.   „Seid ihr zwei endlich fertig? Ich will los. Es sind keine Feinde in der Nähe – die habe ich gestern Nacht beseitigt. Ihr wärt normalerweise schon längst tot.“ Sie nickte langsam, mit einem wissenden Ausdruck. Bernard strich ihr über die Wange und lächelte. „Danke, dass du uns beschützt.“ Für Ebram war das Verhalten der Frau grenzwertig. Er erwartete jeden Moment, dass sie auf alle Viere ging, die Zunge heraushängen ließ oder anfing zu schnurren. Als Bernard sich bedankte, starrte er seinen Liebhaber völlig verdutzt an. Bernard warf ihm einen resignierten Blick zu und wandte sich wieder Abby zu.   „Also gut, Abby, zeig uns den Weg. Wie weit ist es noch?“ „Da ihr so langsam seid: zwei Tage. Und ihr müsst vorsichtiger sein. Ihr hinterlasst Spuren. Ich kann euch meilenweit riechen. Beim nächsten Gewässer müsst ihr euch waschen und dann mit Erde einreiben.“ Ohne weitere Worte setzte Abby sich in Bewegung. Ihr Tempo war überraschend schnell.   Ebram und Bernard joggten hinterher. Mit japsender Stimme fragte der Doktor: „Wie schaffst du das, sie wie einen Hund zu behandeln? Sie ist ein Mensch!“ „Im Moment ist sie kein Mensch, sondern irgendetwas anderes. Du musst lernen, aus deinen engen Vorstellungen herauszubrechen – dann geht vieles leichter“, antwortete der große Mann, ohne Mühe. „Und welche Gewässer? Wir sind auf kein einziges gestoßen! Könnte eine Falle sein“ keuchte Ebram weiter. „Spar dir deine Luft zum Laufen, Ebram. Ich glaube ihr. Und ich glaube, sie will uns nichts Böses. Sie hätte sonst schon längst etwas in diese Richtung unternehmen können.“ Der Doktor schnaubte durch die Nase und schwieg die nächste Stunde verbissen.  
<<<::::------::::>>>
  Die drei Gefährten kamen gut voran. Abby führte sie wieder auf die Gleise, doch da sie offenbar wusste, wohin sie mussten und das Austesten der Kreuzungen entfiel, konnten sie bis zum Mittag vier Stationen hinter sich bringen. Es war jene Station, die den ersten großen Knotenpunkt markierte. Ebram, dem der Dauerlauf zwar nicht mehr so schwer zu schaffen machte wie vor vier Tagen, aber immer noch der Schwächste war, bat um eine Pause. Abby rümpfte die Nase, ließ sich dann aber einfach zu Boden plumpsen. Sie lag auf dem Bauch, hatte die Beine angewinkelt und den Kopf auf die Hände gelegt. Sie sah Ebram lächelnd an. „Du bist stärker geworden.“ Der Doktor nickte mit einem schiefen Lächeln. „Ähm, ja. Bleibt wohl nicht aus.“   Bernard kramte im Gepäck und begann, eine kleine Mahlzeit vorzubereiten. Abby schlich näher an Ebram heran, der den Drang niederkämpfen musste, sich von ihr wegzubewegen.Es machte ihr nichts aus, dass sie ihre Kleidung beschmutzte. Sie roch mittlerweile stark nach Urin und Schweiß, und Ebram fragte sich, warum gerade sie ihm vorwarf, man könne ihn meilenweit riechen. Ihr Geruch war weitaus penetranter. Abby war nun dicht an ihn herangerückt und schürzte die Lippen. „Du bist das Weibchen, nicht wahr? Bist du schon schwanger?“ Ebram zuckte zusammen und wich rückwärts krabbelnd vor ihr zurück. „Waaas?“   Bernard ließ erschrocken den Apfel fallen, den er gerade schnitt, und sah zu den beiden hinüber. „Ebram, was ist los? Abby, lass ihn in Ruhe.“ Abby war kichernd hinter Ebram hergerobbt und schien seine Reaktion höchst amüsant zu finden. Der Doktor hatte einen Pfeiler der Bahnstation im Rücken und fühlte sich regelrecht in die Enge getrieben. Beide konnten den Blick nicht voneinander lassen – er vor Furcht und Ekel, sie voller Neugier und verdrehtem Humor. Bernard tauchte plötzlich auf und tätschelte Abby auf den Kopf. „Los Abby, lass Ebram in Ruhe. Du weißt, er ist etwas schreckhaft.“ Genüsslich die Augen schließend, nickte die junge Frau und murmelte: „Na gut!“ Sie robbte umständlich zurück zum wenige Schritte entfernten Lager, während Bernard vor Ebram in die Hocke ging.   „Ebram, Ebram! Schau mich an!“ Ebrams Blick folgte voller Entsetzen den grotesken Bewegungen Abbys, und erst als Bernard sein Gesicht in beide Hände nahm, konnte er den Blick auf seinen Liebsten richten. „Bernard! Sie ist wahnsinnig. Wir können ihr nicht trauen. Sie führt uns irgendwohin – und von dort gibt es kein Zurück.“
„Schschcht. Ebram… Ebram, bitte. Was ist passiert?“
Der Doktor starrte Bernard an, dann schüttelte er den Kopf. „Nichts. Nichts ist passiert. Sie… ist einfach unheimlich.“ Bernard zog ihn an sich und umarmte ihn. „Wir finden heraus, was mit ihr passiert ist – und machen es rückgängig. Das sind wir ihr schuldig, oder?“ Ebram nickte nur. Sein Blick lag schon wieder auf Abby, die ihn ebenfalls ansah. Sie musste weg.  
<<<::::------::::>>>
  Nachdem sie gegessen hatten – Ebram hatte sich so gesetzt, dass Bernard zwischen ihm und Abby saß – deutete die junge Frau auf den Plan, der in jeder Station an derselben Stelle hing. „Wir sind jetzt am ersten großen Kreuzungspunkt. Ab hier sind sie in den Tunneln. Wir müssen vorsichtig sein. Leise.“ Sie drehte sich blitzschnell zu Ebram um, zog ihn an der Krawatte zu sich herunter und flüsterte: „Buh!“ Für Ebrams ohnehin angegriffenes Nervenkostüm war das zu viel. Er schrie panisch auf, zerrte sich rückwärts und würgte dabei fast an seiner eigenen Krawatte, während Abby ihn mühelos festhielt. Sie lachte keckernd. Bernard sog hörbar die Luft ein, runzelte die Stirn – und gab Abby eine Ohrfeige. Erschrocken ließ sie los, hielt sich die Wange und warf dem großen Mann einen vorwurfsvollen Blick zu. „Böse Abby, ganz böse Abby. Schäm dich!“   Er deutete auf eine Ecke der Bahnstation, und sie verkroch sich dorthin. Ebram war derweil auf den Rücken gefallen, zerrte hustend und spuckend an seiner Krawatte und rang nach Luft. Bernard kniete sich neben ihn, griff nach dem Knoten. Die panischen Versuche, ihn wegzuschlagen, ignorierte er und schaffte es, die Krawatte zu lockern. Mit einem lauten Atemholen, dem sofort ein Hustenkrampf folgte, rollte sich Ebram zur Seite. „Dieses… Mist… Miststück… Das hat sie absichtlich getan. Sie will mich umbringen!“ Bernard half ihm in eine sitzende Position. „Nein, das glaube ich nicht. Ich denke, sie wollte dir zeigen, wie gefährlich es wird, wenn wir laut sind. Ihre Methoden sind nur etwas…“ Er suchte nach einem passenden Wort. „…mörderisch, sadistisch und menschenverachtend?“ ergänzte Ebram bitter. Bernard seufzte. „Ich rede mit ihr.“
„Ich bezweifle, dass Reden ausreicht, um ihren Verstand zu erreichen.“ In Ebrams Stimme lag tiefe Verachtung.   Ohne ein weiteres Wort stand Bernard auf und ging zu Abby, die bereits auf ihn wartete und katzbuckelte. Er schalt sie, streichelte sie, redete auf sie ein. Immer wieder blickten beide zu Ebram hinüber, der sie misstrauisch beobachtete. Dann kamen sie zurück. Abby setzte sich direkt vor Ebram, dessen Körperhaltung deutlich seine Fluchtbereitschaft zeigte. Sie ließ den Kopf hängen und murmelte: „Es tut mir leid, Ebram.“ Dann hob sie den Kopf und starrte ihn an. Für Ebram sah es nicht aus, als würde es ihr leidtun. Doch Bernard stand hinter ihr und forderte ihn mit Blicken und Gesten auf, ihr zu verzeihen. Widerwillig, mit trockenem Schlucken und schiefem Lächeln, hob Ebram die Hand und tätschelte ihren Kopf. „Ich verzeihe dir, Abby.“ Wider Erwarten schloss sie diesmal nicht die Augen, sondern starrte ihn weiterhin an. „Danke.“ Plötzlich aus ihrem Gesicht wachsende Reißzähne hätten nicht gefährlicher ausgesehen, dachte Ebram schaudernd.  
<<<::::------::::>>>
  Sie setzten ihren Weg fort, nun jedoch nicht mehr schnell laufend, sondern vorsichtig schleichend. Abby hatte ihnen nur eine Laterne gestattet – und auch nur stark abgeblendet durch eine übergezogene Mütze. Das Licht reichte kaum aus, um mehr als drei Meter rundherum zu beleuchten. Immer wieder verschwand Abby kurz und bedeutete ihnen zu warten und sich nicht zu bewegen. Nach gefühlten unendlichen Minuten des Wartens tauchte sie dann schattenhaft aus der Dunkelheit auf und gab das Zeichen, weiterzugehen. Bernard fragte Abby irgendwann leise: „Wer sind sie?“   Die junge Frau unterbrach ihren Schritt nicht und antwortete leise flüsternd: „Sie sind die Augen und die Ohren. Einige haben auch Füße, manche nur Rollen. Viele sind tot, aber einige leben noch. Ihre Hände sind scharfe Klauen oder tödliche Geschosse. Die Bäume am Waldrand – die gehören dazu. Das sind keine Bäume, das ist nur Tarnung. Manche können mit den Augen töten. Sie schauen dich an – und dann schneiden sie dich durch. Es gibt große und kleine. Viele Große sind tot, das ist gut. Aber auch die Kleinen sind gefährlich.“ Man sah Bernard an, dass er nicht wirklich etwas verstanden hatte, als er weiterfragte: „Woher weißt du so viel darüber?“ Nun hielt sie doch an. „ER hat es mir gezeigt.“ Sie tippte sich auf den Kopf.   Plötzlich war ein Rumpeln zu hören, und Abby zuckte zusammen. „Da ist einer vor uns. Wir müssen uns verstecken.“ Bernard und Ebram sahen sich um. „Wo? Wo verdammt nochmal sollen wir uns hier verstecken? Das ist ein Tunnel!“ Sie deutete auf den Boden. „Hinlegen. Ich lenke ihn ab. Sie wissen, dass ich in den Tunneln war. Sie suchen mich, nicht euch.“ Widerstrebend legten sich die beiden Männer bäuchlings auf den Boden, je einer rechts und links neben dem Gleis. Abby verschwand in der Dunkelheit.   „Bernard?“ flüsterte Ebram.
„Ja?“
„Glaubst du ihr?“
„Ja, das tue ich“, antwortete Bernard, etwas genervt. Ebram seufzte. Dann sahen sie das Licht. Zwei Lichtstrahlen tasteten sich über die Wände und die Decke. Immer wieder war ein Surren und Klacken zu hören. Dann sahen sie im Licht einen Schatten, der auf die zwei Lichtquellen sprang. Dann krachten Schüsse durch den Tunnel und wurden von den Wänden zurückgeworfen. Geklapper und metallisches Quietschen folgten. Das Licht verschwand, aber das Geschepper hallte noch gute dreißig Sekunden durch den Tunnel. Bernard richtete sich ein wenig auf. „Siehst du was, Ebram?“ Auch der Doktor hob den Brustkorb etwas. „Nein. Aber was auch immer sie da macht – leise ist es nicht.“

Comments

Please Login in order to comment!